Hinfahrt Rückfahrt
Im Zug gleich aufgeschrieben
Juni 99
Drei Leute sitzen in einem offenen Abteil und unterhalten sich über „Schwarze“, die sich in große Hitze und bei der Arbeit wärmere Kleider angezogen haben sollen, als weiße Arbeitskollegen. Später erzählt einer der Männer, dass er mit einer Gruppe von Arbeitern bei einem Bauern bewirtet wurde. Man habe nur eine Schüssel mit saurer Milch als Abendessen gehabt und dazu einen Löffel und wer zu vornehm war aus der gemeinsamen Schüssel zu löffeln, sei hungrig ins Bett gegangen. Ein „Parteigenosse“ (whatever that means) zum Beispiel habe erzählt, dass er vor Hunger nicht habe schlafen können. Als der Erzähler und seine Mitreisenden aussteigen, sehe ich, dass sie gar nicht dasselbe Alter haben: Die zwei älteren Herren haben ihre Stories einer sehr jungen Frau erzählt.
Ein Mann, rötliche Haare, kantiger Kopf, mit einem Schweizer Dialekt rät mit seinen Mitreisenden ein Kreuzworträtsel. Aber es ist eigentlich nicht sein Ziel, das Rätsel zu lösen (er scheint das Rätsel gemacht zu haben). Er beobachtet die drei Anderen vielmehr beim Raten, gibt Tips und kommentiert die Vorgehensweise der anderen bei der von ihm gestellten Aufgabe wie aus einer Supervisions-Perspektive, um ihnen etwas über sie selbst klarzumachen.
Oktober 99
Im Interregio-Großraumabteil dominiert die ganze Zeit das Geschrei des Jüngsten: Eine Mutter hat offensichtlich eine lange Reise mit ihren zwei Kindern vor, und der knapp Vierjährige ist bei allen Kartenspielen und beim Lesen in der “Tierkinderzeitung” dermaßen deutlich unterlegen, dass er seinen Frust durch Brüllen und herumtoben kompensiert. Die Mutter versucht, ihn zum Hinlegen und Schlafen zu überreden, legt ihn über zwei Sitze und bittet sogar die Tochter, den Ton ihres Gameboys leiser zu stellen, damit er “ein Schlaflied” wird. Plötzlich in die Stille hinein fängt völlig unmotiviert ein Mann aus der nächsten Sitzreihe wie ein Orang Utan zu schreien „UA, UUUUA,UA“ und schlägt dabei auf seine Nachbarin ein. Es sieht aus, wie wenn er selbst über sich erschrickt, aber vom Schreien und Schlagen nicht ablassen kann. Die Frau erhebt sich unter seinen Faustpüffen nur langsam, weiß offensichtlich nicht, was sie tun soll und wartet so halb in der Sitzreihe stehend ab. Es fällt kein Wort. Der Mann, die Frau schweigen, die Mutter mit den Kindern übergeht den Vorfall und auch die Leute in der dritten Bankreihe lächeln nur verlegen. Die Geschlagene zieht sich ihren Mantel an, einen schwarzen Steppmantel. Ich versuche herauszukriegen, ob auch an ihr etwas nicht stimmt. Aber bis auf die unkleidsame Frisur und das Abgespannte Gesicht fällt an ihr Nichts auf. Der Mann, der nun ruhig sitzt und nicht mehr brüllt, ist akkurat gekleidet: Weißes Hemd, groß gemusterte Seidenkrawatte, Anzugjacke blaugrün karierte Hose mit exakter Bügelfalte, unmoderne Goldbrille. Eine ganz und gar biedere Erscheinung. Könnte ebenso gut Büroangestellter wie Pfarrer sein. Beim Aussteigen trägt er brav die zwei Koffer, die dem Paar gehören. Es sind zwei grüne Schalenkoffer, keine Samsonites, einer groß, einer klein mit Rollen. Beim Warten auf den Anschlusszug begegne ich ihm wieder. Die Frau ist nicht davongelaufen, sondern kommt aus der Schalterhalle auf ihn zu und macht eine Bemerkung zu ihm. Kurz darauf treffe ich ihn noch einmal auf meinem Weg zur Zeitschriftenhandlung. Er geht nun ohne Gepäck ganz locker, das Jackett aufgeknöpft und sieht mich an. Er erkennt mich wohl wieder, weil ich im Zug gegenüber saß.
Ein Minibarwagen kommt vorbei. Das vornehme Aussehen des Minibarkellners steht im Widerspruch zu seinem „Cola-Wasser-Fanta-Bier“, das durch das unbewusste vielfache Herleiern einen drohenden Unterton bekommen hat, der offensichtlich gar nicht gemeint ist. Der innere Widerstand, seine eigene Stimme einsetzen zu müssen, ist spürbar.
Ein Mann mit einem schlaffen Gesicht und spitzen hängenden Lippen langweilt sich auf der Fahrt so sehr, dass er darauf wartet, meinen Blick aufzufangen, wenn ich vom Lesen aufschaue. Jedes mal wenn ich kucke, schaut er auch eindringlich und findet das gar nicht störend. Zum Glück steigt er bald aus.
Auf dem Gepäcknetz liegt ein Schirm, von dem nur der gebogene und eingekerbte Griff zu sehen ist. Die Farbe ist hellbraun und eigentlich sieht es so aus, wie wenn eine Currywurst über den Rand schaut.
Hinter einer Frau, die völlig unbewegt über lange Zeit aus dem Fenster schaut und den Kopf nie dreht, sitzt jemand, der beim Sprechen die Hände hebt und damit über dem Kopf gestikuliert. Ich sehe jedenfalls nur die sich drehenden und winkenden Hände, dazu ein Lachen. Verwunderlich, das sich von dieser Emotion und Bewegung gar nichts auf die vorn Sitzende überträgt.
Ein junger untersetzter Mann mit schwarzem T-Shirt und Goldkettchen, dunkelhaarig und beim Reden lebhaft gestikulierend (im Wechsel mit Kratzen auf der Brust) sitzt im Speisewagen einer langhaarigen jungen Frau gegenüber. Sie ist noch dunkelhäutiger als er und sehr zierlich. Sie sprechen eine Sprache, die ich nicht kenne. Sie klingt Slavisch, aber von den lebhaften Gesten her hätte ich eher auf Süditalien getippt. Italienisch ist es aber nicht. Als Antwort auf sein Brustkratzen beginnt sie nach einiger Zeit, im Gespräch an ihrem Oberschenkel zu kratzen. Sie hat eine enge Veloursamthose an. Farbe: violett-schwarz gemustert. Ich überlege nach einiger Zeit, warum mich der junge Mann mit seinem Gehabe an eine alte Frau erinnert. Vielleicht ist es der ununterbrochene Redefluss mit heller Stimme. die geröteten Augen könnten die einer Frau sein. Aber komischerweise lässt mich auch seine Macho-Gestik an eine dörfliche Szene denken. Vielleicht verbinde ich das unbewusst mit älteren Frauen, die man in Italien auf der Strasse so reden sieht.
Die Porträtfotografin Giselle Freund in einem Fernsehinterview zu ihren Porträts befragt antwortet auf die Frage, ob sie glaubt eine gutes Gesicht zu haben: Nur selten könne sie sich ehrlich im Spiegel ansehen und selbst dann sähe man nicht das was man sieht getrennt von dem, was man denkt. Sie meint: vielleicht zum Glück, denn sonst würde man ja leicht verzweifeln. (Interessant ist der Gedanke, dass man nicht sehen kann ohne zu denken was man sieht, das bedeutet für das Sehen, dass man es nicht unschuldig, unbeteiligt tut, sondern dass das Sehen dasjenige weckt, was man assoziieren kann. Unter anderem deshalb sehen verschiedene Menschen in der gleichen Situation Verschiedenes).
Ein etwa gleichaltriger Mann mit Schnäuzer mit holländischem Akzent sitzt mir im Speisewagen gegenüber: aus Breda. Als ein Mitreisender aus Versehen die Asche aus dem Aschenbecher auf das weiße Tischtuch pustet und erklärt, heute sei nicht sein Glückstag (Koffer und Geldkarte seien ihm heute auch schon gestohlen worden) reicht der Mann aus Breda ihm die Hand: Ihm sei auch Geld gestohlen worden gestern Abend. Später erklärt er mir, dass er gerne die schöne Rheinstrecke fährt, das würde sogar den schlechten Service im Restaurantwagen ausgleichen. Und überhaupt sei das Leben schön, auch wenn man in unserem Alter nicht mehr alle Brücken hinter sich abbrechen könne und von vorne anfangen. Dann spendiert er mir noch einen Kaffee und einen Schnaps, will, dass ich holländisch mit ihm spreche und dann versucht er, die Kellnerin, die er sehr nett findet, zu überreden mit ihm in Mainz auszusteigen. Die muss aber nach Karlsruhe. Als er ausgestiegen ist, sagt sie zu mir: „So geht wenigstens die Zeit schneller rum, auch wenn man nur Unsinn redet.“