Sinn für Neues
Firmenjubiläum Horváth & Partners: »Wertschöpfung braucht Werte – Wie Sinngebung zur Leistung motiviert«
Prof. Holger Bunk, April 2006
Schaut man sich an Einträge im Internet an, so findet man in einer Suchmaschine für die Stichworte „Sinn des Lebens“ 7.200.000 Einträge, die in 0,09 Sekunden aufgefunden werden, 2.320.000 für „Leistungssteigerung“ (0,18 Sekunden), 616.000 für „Leistungsdruck“ (0,16 Sekunden), 49.900 für „Sinnkrise der Gesellschaft“ (0,76 Sekunden) – Stand vom März 2006.
Rein quantitativ führt also das Interesse an verheissungsvolleren positiven Formulierungen vor der kritischen Problematisierung, die deutlich weniger vorkommt. Niemand wird allerdings aus einem solchen quantitativen Erfolg bestimmter Themen eine qualifizierende Wertung des Informationsgehaltes machen. Denn ohne genaue Analyse sind die Inhalte nicht greifbar und die Frage, wer z.B. das Angebot für Sinnsuche macht, oder aus welchem Bedürfnis heraus danach verlangt wird, kann durch Zählung von Angebot und Nachfrage natürlich nicht beantwortet werden. Trotz der fundierten Beiträge, die es auch im Internet gibt, hat man den Eindruck, dass sich die schiere Menge der angebotenen Einträge schon inhaltlich gegenseitig neutralisiert weil es rein mengenmässig nicht gelingt sie zu vergleichen. Es geht eher um eine Art quantitativer Statistik für die „Resource Aufmerksamkeit“ und einen Auftritt auf dem „Markt der Meinungen“.
Das Internet an sich ist leider nicht das gemeinsame Hirn aller, in dem sich Fähigkeit und Wissen potenzieren und vernetzen lassen. Es kann ohne Dialog mit kenntnisreichen lernenden Nutzern nur additiv vorgehen und nicht automatisch sinnvolle Rangordnungen zwischen seinen Inhalten herstellen (darin unterscheidet es sich nicht vom Markt anderer Publikationen, allein das Aufsuchen geht im Netz schneller). Ein Grossteil der Informationsmaschinerie wird wohl nie mehr überprüft oder aktualisiert und droht ein ähnlich sinnfreies Dasein wie einst ein überfülltes Aktenarchiv des MfS zu führen, das irgendwann an seiner eigenen Quantität zugrunde ging. Dafür, dass man numerischen publizistischen Erfolg nicht mit Interessantheit gleichsetzen darf, gibt es mehr Beispiele als genug. Popularität und Bekanntheit schlagen nicht automatisch in Qualitätssteigerung um. Und nicht alle Themen eignen sich für die Versuche, High- und Low-Culture einander anzunähern. Die „Abstimmung mit den Füssen“ oder „Peoples Power“ funktionieren, aber sie funktionieren nicht immer und nicht überall, weil nicht beliebig anwend- und mobilisierbar. Immerhin setzen sie, wenn es anders nicht geht, notwendige und überfällige Anpassungsprozesse in Gang und bilden ein Korrektiv gegenüber den obrigkeitlich verordneten Strukturen, wenn die den Sinn für Neues vermissen lassen.
Anpassungsvorgänge unter anderem gesellschaftlicher Art sind es, in die letztlich alle Anstrengungen der Erkenntnis, der Wissenschaft, der Bildung einmünden, – im besseren Fall bevor sich eine so etwas wie eine Volkserhebung oder eine sogar grössere Krise anbahnt. Anpassung ist auch der Begriff, ohne den wir nicht auskommen, wenn wir die Gesetzmässigkeit von Entwicklungen beschreiben wollen und der einen Bogen spannt von der Wirtschaft (die sich in ständigen Bewegungen an die Märkte anpasst) zu Wissenschaft und Kunst, die im weitesten Sinne und auf dem jeweiligen Gebiet dafür sorgen, dass Wahrnehmungsinstrumentarien an die Gegenstände der Beobachtung, an die „Realität“ angepasst werden. Neue Beobachtungsfelder und Entwicklungen sollen durch angemessene und neu justierbare Verfahren erschlossen werden.
Vielleicht gibt es hier eine stillschweigende oder zumindest noch nicht allbekannte Übereinkunft zwischen den unterschiedlichsten Disziplinen in der gemeinsamen Vermutung, dass immer wieder Herausforderungen anstehen werden, in denen man Herangehensweisen und Koalitionspartner aus völlig anderen Fachgebieten brauchen kann. Offenheit dies einzuüben, macht es möglich, dass sich Menschen aus so unterschiedliche Bereichen wie z.B. aus einem Wirtschaftsunternehmen und aus Hochschule oder Kunstbetrieb gewinnbringend unterhalten können und sich voneinander anregen lassen (Horvath & Partners führte im Jahr 2005 ein spannendes Ausstellungsprojekt mit Studierenden der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart durch – infolgedessen wurde auch der vorliegende Beitrag zu diesem Buch möglich). Das sagt freilich nicht, dass sich das Verhältnis zwischen so verschieden operierenden Disziplinen wie Kunst und Unternehmen immer in Balance befinden kann oder das Gespräch ohne Missverständnis vonstatten geht. Missverständnisse – und das ist die schlechte Nachricht – sind selbst bei dem vorhandenen gegenseitigen „Good Will“ nicht zu vermeiden, weil beinahe global. Das hat mit dem so sehr verschiedenen Ansatzpunkt und der anfangs beschriebenen Menge von Informationen zu tun, die wir verarbeiten und bewerten müssen. Zu dieser Verarbeitung gehört auch die Erfahrung der Praxis. Erst in der Kooperation wurden beim erwähnten Kunstprojekt die gegenseitigen Erwartungen der Realität angepasst.
Das Wort „Anpassung“ wird hier nicht im dem Sinne verwendet, die in meiner Jugend (so ca. Ende der 60iger Jahre) „brav, angepasst“ bedeutete, wenn jemand sich mit Kleidung oder Frisur nach den Wünschen einer konservativeren älteren Generation richtete. Zu dem Begriff wie ich ihn meine, will ich hier einen kurzen Exkurs einfügen, den ich gelegentlich zur Verdeutlichung ideengeschichtlicher Veränderungen bei Studierenden gebrauche, um zu zeigen, dass man selbst als junger Künstler mit dem Anspruch auf eigene Originalität nie bei einem Nullpunkt ansetzt, sondern sich bewusst oder unbewusst auf Vorläuferideen und ein komliziertes, auch bei selbstkritischer Betrachtung schwer durchschaubares Geflecht von Einflüssen bezieht: Die Kunstgeschichte reflektiert Ereignisse, die Wendepunkte markieren und Entwicklungen auslösen, Themen, die anschwellen und abebben oder zu unbewussten Konventionen des Denkens absinken. Kunst als sinnenhafte, emotional ausdifferenzierte und auch keinesfalls gedankelose Komponente in unserer durchrationalisierten Gesellschaft – insbesondere die künstlerische Erfindung der nachwachsenden Generation – arbeitet sich bis heute auf immer wieder neu ansetzende Art und Weise an dem Widerspruch zwischen aufgeklärter Rationalität und Gefühlsleben und Wahrnehmungen der Menschen ab. Deswegen ist es wichtig, die massiven Umschwünge zu thematisieren, denen die geistige Welt, also auch Kulturbetrieb und bildende Kunst ausgesetzt sind.
Charles Darwins Lehre von der Abstammung der Arten ist für das im Menschenbild im 19. Jahrhundert ein solcher Wendepunkt, der die führende Stellung von Rationalität und Wissenschaft untermauerte, wie sie bis heute fortdauert. Es ist bekannt, dass sich in Folge der dramatischen Veränderung des Denkens durch Darwins Theorie viele naturwissenschaftlichen Disziplinen neu ausrichteten, aber auch andere Gebiete wie Philosophie und sogar Kunst. Sie kamen nicht umhin „Die Entstehung der Arten“1 als Wendepunkt gegenüber traditionellen Interpretationen zur Entstehungsgeschichte der Menschheit zur Kenntnis zu nehmen – auch hier also ein wichtiger, ideengeschichtlich notwendiger Anpassungsprozess. Die dadurch ausgelösten zahlreichen Auseinandersetzungen, waren durch Parteinahme für oder gegen den Darwinismus gekennzeichnet, deren Auswirkungen wir noch bis heute spüren und z. B. in dem Streit um „intelligent design“ erstaunt zur Kenntnis nehmen.
Damalige Befürworter einer Anwendung der – wie sie meinten – darwinistischen Prinzipien waren die „Sozialdarwinisten“ zu denen der inzwischen fast vergessene Zoologe und Naturphilosoph Ernst Haeckel (1834–1919) gelten kann. Heute noch ist sein bebildertes Werk „die Natur als Künstlerin“ für bildende Künstler interessant. Auch deshalb, weil sowohl Darwin als auch Heckel ausgehend von der Anschauung der sichtbaren Naturformen, von einer Morphologie, wissenschaftliche Schlüsse zogen und damit eine Verbindung von Anschaulichem und Theorie herstellten.
Wohl dadurch ausgelöst, auf jeden Fall aber verstärkt wurde in der Folge ein allgemein anderer Umgang mit dem „Aussehen“: es entstand in der Welt visueller Produktionen ein regelrechter Kult um die Darstellung des Zusammenhanges von „Phänotyp“ und „Genotyp“. Hatte Darwin ausdrücklich nicht die Stärke als Überlebenskriterium erkannt2 und stattdessen von „the fittest“, „den Angepasstesten“ geredet3 , so wurde das in der Übersetzung ins Deutsche bereits eine Interpretation der Sozialdarwinisten, die neben wissenschaftlichen auch erkennbare politische Interessen hatten und im Kampf ums Überleben die „Stärksten“ gewinnen lassen wollten.
Infolgedessen kam es zu einer bis heute immer wieder neu aufgelegten Mode, im sozialdarwinistischen Sinne überlebensfähig und „stark“ auszusehen, was letztlich auf dem genannten Missverständnis, wenn nicht der Manipulation der Begrifflichkeit beruhte. Der Begriff „Fitness“ wird heute für einen muskelbepackten Look benutzt, obwohl er übersetzt „Anpassungsfähigkeit“ bedeutet und das Fitness-Studio lediglich Muskelaufbau betreibt, aber keine allgemeine Anpassung im Sinne von vererbbaren Überlebensmöglichkeiten vermitteln kann. Das eigentliche „Fitness-Studio“ ist aber der gesamte Lebensprozess, dessen „Fitness -Programm“ gerade kein festgelegtes Ziel formulieren kann. Der „Fitness-Kult“ betreibt sogar das Gegenteil: Phänotyp (= die Erscheinung) wird verwechselt mit Genotyp (= innere Anlage), äußerer, angeblich sichtbarer Erfolg und Aufmerksamkeit werden verwechselt mit der Anpassungsleistung, die ein permanenter Prozess ohne festgelgegtes Aussehen ist.
Es ist manchmal spannend zu hören, ob selbst Leute, die von sich glauben, die Prinzipien Darwins zu kennen und verstanden zu haben, eine differenzierte Antwort auf die Frage nach „Fitness“ oder „Überlebensfähigkeit“ geben, wenn sie z. B. zwischen kleiner und grosser Pflanze der gleichen Art oder Tieren entscheiden sollen. „Die kleinere Pflanze bricht bei Wind oder Schnee nicht so leicht um und braucht nicht so viel Wasser, die grössere bekommt mehr Licht“ oder „das kleinere Tier kann besser entwischen, das grössere hat dagegen einen besseren Überblick“. Das wären so ungefähr Antworten aus der differenzierten Perspektive darwinistischer Evolutionsprinzipien. In der Regel fallen die Antworten stattdessen recht simpel aus: Das Grössere ist für den oberflächlichen Blick das Kräftigere und deswegen angeblich „fitter“. Gärtner und Züchter wissen, dass sie die stärker aussehenden Exemplare besser verkaufen. Mit Gesetzmässigkeit der Natur hat das erstaunlicher Weise nichts zu tun, sondern mit unserem wertenden Blick.
Wir haben zwar auch gelernt, dass der grösste Astrophysiker im Rollstuhl sitzen und unscheinbar aussehen kann, statt gross, stattlich, muskulös. Jedoch funktioniert unser Urteil eben oft schlichter und unterschwelliger. Wird an unsere Emotion und auf unbewussteren Ebenen an uns appelliert, dann gelingt die ja auch anstrengendere Differenzierung nicht immer. Bilder eindrucksvoller Stärke als Orientierung, Spekulationen und Prognosen über Anpassungsfähigkeit liegen vielen Leistungsbewertungen zu grunde. Dabei geht es darum, in dieser Hinsicht nicht ungenau zu sein und sich nicht irreführen zu lassen (damit ist der Grund für den Darwinismus – Exkurs an dieser Stelle genannt: der durch Darwin historisch neue Stellenwert der Begriffe von Anpassung und Leistung und eine Beschreibung der Schwierigkeit vom Sichtbaren zu Erkenntnis und Bewertung zu kommen).
„Fitness-Kult“ als Versatzstück aus einer ursprünglich wissenschaftlich gemeinten Debatte, die impulsive Reaktion auf den attraktiven Look, der Kraft verspricht, dominieren überall da, wo es um Meinungen und Urteile geht, denen wir nicht so viel Aufmerksamkeit schenken wollen, dass wir wirklich ins Nachdenken kommen. Sie finden sich aber erstaunlicherweise auch da wo man sie nicht vermutet: Bei Expertenmeinungen und im Wissenschaftsbetrieb selbst – sonst wäre ein Buch wie Paul Feyerabends „Wider den Methodenzwang“4 nicht entstanden, das auch ein Buch ist, ohne dessen Empfehlung ich bei meinen Studierenden nicht auskomme. Statt Situationen neu zu durchdenken,Veränderungen wahrzunehmen und uns im guten Sinne an sie anzupassen, verfallen wir dem Einfluss von Konvention und Gewohnheit, verhalten uns höchstens pragmatisch. So funktioniert nun mal ein Grossteil der alltäglichen Kommunikation, und es ist gewöhnlich weiter nichts Schlimmes daran, wenn man sich dessen bewusst ist. Viele Erfolge basieren auf Vorläufigkeit und werden gefeiert, weil wir Lust auf eine Party haben. Bei gravierenderen Entscheidungen muss man sich aber anders verhalten, umfassender und gründlicher reflektieren. Die tatsächliche Leistung wäre nach dem Wissenschaftler Darwin die Anpassung, die durch äussere Veränderungen hindurchführt und nicht ein noch so gut aussehender „starker“ derzeitiger Erfolg.
Anmerkungen:
- Darwin, 1809 –1882, veröffentlichte sein Buch “On the Origin of Species by Means of Natural Selection” im Jahr 1859
- “It is not the strongest of the species that survive, nor the most intelligent, but the one most responsive to change” (Übersetzung: Es sind weder die Stärksten der Art, die überleben, noch die Intelligentesten, sondern die, die sich am deutlichsten auf Veränderung einstellen.)
- “In the struggle for survival, the fittest win out at the expense of their rivals because they succeed in adapting themselves best to their environment.” (Übersetzung: Im Wettstreit ums Überleben gewinnen die angepasstesten auf Kosten ihrer Rivalen, weil es ihnen gelingt, sich am besten in ihre Umgebung einzufügen.)Über die tatsächliche Erfindung des Ausdruckes “Survival of the fittest” sagte Darwin selber: “I have called this principle, by which each slight variation, if useful, is preserved, by the term Natural Selection” (Übersetzung: Ich habe dieses Prinzip, bei dem jede nur leichte Veränderung bewahrt wird, wenn sie nur nützlich ist, mit dem Begriff „Natürliche Auswahl“ bezeichnet.)“The expression often used by Mr. Herbert Spencer of the Survival of the Fittest is more accurate, and is sometimes equally convenient” (Übersetzung: Der Begriff des „Überlebens der Angepasstesten“, der häufig von Mr. Herbert Spencer gebraucht wird, ist genauer und manchmal ebenso passend.)
- Paul Karl Feyerabend (1924 – 1994) schrieb sein Buch »Wider den Methodenzwang. Against Method – Outline of an Anarchistic Theory of Knowledge«, Frankfurt/M., 1975, ISBN 3518281976