Über Holger Bunk

Das »Regensburger Zimmer« von Holger Bunk und Peter Mell im Altmannischen Haus

    Von Dr. Lutz Titel

    Wandmalerei gilt als eine der ältesten künstlerischen Betätigungen der Menschen (paläolithische Höhlenmalerei). Sie war von jeher mit höheren Ansprüchen als an ein transportables Einzelbild verbunden. Die Malfläche ist ortsfest („monumental“, daher oft auch Wandmalerei = Monumentalmalerei). In der Regel liegt eine öffentliche Zugängigkeit vor und die Größe der Malfläche ermöglicht zyklische Darstellungen. Von daher eignete sich die Wandmalerei bestens zur Darstellung von Macht und Pracht sowie zur politischen und religiösen Beeinflussung der Menschen. Es sei in diesem Zusammenhang nur kurz an die mittelalterlichen Freskenzyklen in Kirchen, Burgen und Rathäusern erinnert, ebenso an die großen Wandmalereien der Renaissance und der Barockzeit, ja selbst noch an die monumentalen Wandmalereien in repräsentativen Gebäuden des 19. Jahrhunderts.

    Im 20. Jahrhundert, besonders nach 1945, scheint diese Kunstgattung (abgesehen von Diktaturen, welche die öffentliche Propagandamalerei an Außen- und Innenwänden weiterhin benutzen, ja sogar bewusst für ihre Zwecke zu erneuern suchten) keine große Bedeutung mehr zu haben. Sie erscheint heute nahezu verschwunden. Die Gründe dafür mögen vielfältig sein. Sicher hat die moderne Kunstentwicklung nach 1900 mit der intellektuellen Ausrichtung auf das Einzelwerk, die totale Freisetzung der Ideen und die Einbeziehung aller Materialien in eine künstlerische Gestaltung genauso viel zum Versiegen dieser alten Kunstform beigetragen wie neue gesellschaftliche Leitbilder, ein neues „Lebensgefühl“. Entscheidend für das Ende der Wandmalerei in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dürften aber neue öffentliche Repräsentationsformen und die Entwicklung der neuen Medien sein. Es ist heute in der Tat anachronistisch, mit großen (öffentlichen oder privaten) Wandmalereien Reichtum und Macht zur Schau stellen zu wollten, oder sie als Bildungs- und Propagandamittel einzusetzen. Dies leisten heute effektiver andere Beeinflussungsformen, wie z.B. das Fernsehen.

    Der Verfasser dieses Beitrags hatte 1995 Peter Mell und Holger Bunk vorgeschlagen, einen Wohnraum im Altmannschen Haus (Neue-Waag-Gasse 2)1 auszumalen. Die Anregung dazu kam von den erhaltenen spätmittelalterlichen Freskenresten in diesem Gebäude, verbunden mit der Absicht, Künstlern heute eine interessante Aufgabe zu stellen. Es ist gewiss nicht einfach, einen dreidimensionalen Raum vollständig auszumalen, wenn die bisherige Tätigkeit überwiegend dem zweidimensionalen Tafelbild galt.

    Mit Peter Mell war der Autor schon seit seiner Bodenseezeit bekannt.2 In einer Züricher Galerie hatte Mell zwar schon einmal einen Raum gestaltet3 ,aber dort wurde die „Bildvorstellung“ der Grundfarben Blau-Rot-Gelb thematisiert, die im vorgegebenen Raum erwirklicht wurde.4 Peter Mell hatte 1993 und 1994 mehrmals mit Holger Bunk zusammengearbeitet. Die Ergebnisse dieser Teamarbeit waren in der Stuttgarter Galerie Rainer Wehr zu sehen.5 Von daher erschien es spannend, wie diese beiden Künstler, die sehr unterschiedlich arbeiten (vereinfacht ausgedrückt: Holger Bunk figürlich und Peter Mell Farbflächen malend), das Problem einer gemeinsamen Raumgestaltung lösen würden, denn auch Holger Bunk hatte sich in seinen Gemälden und Installationen oft mit teilweise komplizierten Raumkonstruktionen befasst.6

    Den Künstlern wurde zunächst ein Raumplan zugeschickt und nach ersten Beratungen erklärten sie sich bereit, die Aufgabe – den Raum vollständig auszumalen – zu übernehmen. Vorgaben wurden keine gemacht, die Künstler hatten bei der Gestaltung völlig freie Hand. Am Anfang wurde vom Auftraggeber vorgeschlagen, die Malerei direkt auf den Wänden und an der Decke anzubringen. Hier kam es aber zu einer ersten, wichtigen Änderung: Die Künstler entschieden sich dafür, nicht direkt auf der Wand zu malen, sondern auf einer vorgrundierten Leinwand7 , die mit einer Mischung aus Tapetenkleister und Caparol-Binder im Verhältnis 1:1 fugenlos (mit anstoßenden, glatt geschnittenen Kanten) auf die Wand geklebt werden sollte. Dadurch umgingen sie sämtliche technische Probleme der Wandmalerei (Wahl der Technik, ob Fresko, Secco, Enkaustik etc.) und es lag ihnen letztlich ein Malgrund vor, auf dem die Acrylmalerei des Ateliers problemlos fortgeführt werden konnte. Und noch ein Weiteres: Durch diese Entscheidung wurde letztlich das Unverrückbare der Wandmalerei (obwohl es heute mittlerweile Techniken zur Lösung und Bergung von ortsfester Wandmalerei gibt) aufgehoben, denn die aufgeklebte Leinwand ist ablösbar und kann wieder in anderen Zusammenhängen gezeigt werden. Vielleicht hat diese Möglichkeit – wenn auch unbewusst – die Ausmalung dieses Raumes mit beeinflusst.

    Die Künstler trafen sich im Juni/Juli 1995 zu einigen Gesprächen (Abb.1) und nach einem regen Austausch (Abb. 2) waren dann die Vorbereitungen soweit gediehen, dass am 18. August 1995 die gemeinsame Arbeit begonnen werden konnte. Holger Bunk hatte eine kleine Skizze (Tinte und Rotstift, Abb. 3) mitgebracht, die erste Überlegungen festhielt: illusionistischer Lattenrost, der abrupt in der Fläche endet und nur Teile der bemalten Wände „einrahmt“. Irrational gehen laubenartige Latten in wachsende Pflanzen über(?).“ Aufschlussreich ist es, dass beide Künstler gemeinsam vor Beginn der Arbeiten Kloster Weltenburg besuchten, um eine barocke Raumgestaltung zu studieren. Das Selbstporträt von Holger Bunk an der Decke (Abb. 4) kann somit auch als eine Hommage an Cosmas Damian Asam und seinen Bruder Egid Quirin Asam (Stuckbildnis des Cosmas Damian Asam, modelliert von Egid Quirin Asam im Kronreif über der Wölbschale) angesehen werden.

    Am ersten Tag der gemeinsamen Arbeit legte Holger Bunk die Umrisse der Figur in der Türlaibung, die Frau auf der Kugel (am Anfang hatte sie noch Blumen in der Hand, Abb. 5) fest, skizzierte den Baum, das Lattengerüst und das Selbstbildnis an der Decke. Peter Mell widmete sich zuerst ganz der Decke. Eine lichtgelbe Deckenscheibe mit zwei Öffnungen und einem Tragbalken, umgeben von blauer Farbe wurde gemalt. Es zeigte sich sofort, dass die Platz- bzw. Raumverteilung zwischen den Künstlern schon vorher weitestgehend abgesprochen war, denn gleich am ersten Tag wurden die figürlichen Akzente gesetzt, die später beibehalten wurden. Peter Mell ging vernünftigerweise noch nicht an die Wände, da erst einmal die Platzierung und Wirkung der Figuren, welche gegenüber den Farbflächen eine stärkere Präsenz haben, abgewartet werden musste.

    Am nächsten Tag umriss Holger Bunk die Vaginaform in der Südwestecke des Raumes, arbeitete an der Türfigur, malte die Kugel voller aus, der jetzt eine kleinere, rote Kugel beigegeben wurde, nahm die Blumen aus der Hand der Frau weg und legte dafür neu ein Buch auf die Kugel. Mit den Grundfarben Blau, Rot und Gelb malte Peter Mell nun die Türlaibung aus, die Deckenplatte wurde akzentuiert, die eine Deckenplattenöffnung wurde als Ausblick in einen nächtlichen Sternenhimmel gestaltet.

    Holger Bunk – »Wohnung von Dr. Lutz Tittel«
    Blick in die ausgemalte Bibliothek der Wohnung von Dr. Lutz Tittel. Die gemeinsame Arbeit mit Peter Mell wurde inzwischen überstrichen.

    Am dritten Tag arbeitete Holger Bunk an der Kugel weiter und widmete sich der Fensterwand, an der nun eine querovale Form auftauchte. Damit wurde direkt das Fenstermotiv der gegenüberliegenden Neuen Waag in den Raum hineingezogen. Die Türfigur wurde fast fertig gestellt, der Baum weiter ausgemalt. Auch Peter Mell reagierte auf die Farbigkeit der Fassade der Neuen Waag, indem er die östliche Fensterlaibung in einem gedeckten, rötlichbraunen Ton ausmalte.

    Hier ist vielleicht der Platz, kurz auf die unterschiedliche Maltechnik der beiden Künstler einzugehen. Beide benutzten Acrylfarben. Holger Bunk „Fertigfarben“ aus der Tube, während Peter Mell Pigmente und Binder mitbrachte und sich seine Farben jeweils neu zusammenmischte. Beide nahmen dann Pappteller (bzw. kleine Plastikschüsseln bei größeren Farbflächen) als „Paletten“, auf denen die jeweils benötigten Farbportionen zusammengestellt wurden. Die Farben aus den Tuben wirkten insgesamt stumpfer, kompakter, deckender, diese Wirkung wurde aber durch die Technik von Holger Bunk, seine Figuren mehrmals zu übergehen, auszudifferenzieren, wieder teilweise aufgehoben, da durch die mehrfachen Farbschichten Plastizität und Tiefe entstanden. Je nach künstlerischer Absicht mischte Peter Mell seine Farben neu, von einem kompakten Grau (eine sehr schöne, gleichmäßige Fläche) bis zu einem samtigen, tiefen Ultramarinblau und einem dünnflüssigen Rot, das eine fast lasierende Malerei wie bei seinem Architekturmotiv ermöglichte.

    Nach dem dritten Tag begann Peter Mell an der Westwand mit dem Architekturmotiv und den Farbfeldern in Grau und Grün. Der phallusartige Turm bildete das Gegenstück zur Vaginaform und dieses „Lebensmotiv“ der ersten Skizze (Abb. 3) hatten nun eine formale Steigerung bei einem gleichzeitig höheren Abstraktionsgrad erfahren. Mit Beginn der Arbeit an der Westwand wurde der Gesamtraum langsam geschlossen. Peter Mell hatte sich zu wenigen, großen Flächen entschlossen, was sicher die richtige Reaktion auf die Intensität der Bunkschen Figuren war. An der Ostwand gegenüber entstanden die verkanteten Farbflächen in Gelb und Ultramarinblau, wobei die dunkelblaue Fläche einen schönen Gegenpol zur massiven, dunkelbraunen Kugel rechts unten an dieser Wand bildete. Holger Bunk legte den Landschaftshintergrund beim Mädchen auf der Kugel an und widmete sich der Fensterwand. Das Querovalmotiv wurde zugunsten von ruhiger wirkenden rechteckigen Flächen eliminiert. Die Fensterlaibung des westlichen Fensters wurde mit einem hellen Grau bemalt, neben der Heizung darunter eine „Grünschlange“ vor dunklem Hintergrund angebracht. Bis auf die linke Hälfte der Westwand war nun die Raumdisposition klar.
    Holger Bunk fuhr für zwei Tage nach Amsterdam und Peter Mell malte in dieser Zeit das gedeckte Rotfeld an der Westwand, den blauen Eimer mit einem „Bewegungsknüppel“ im Architekturmotiv, den Deckenanschluss (Blauflächen) an der Westwand, die Felder über der Bücherwand, änderte die dunkle „Himmelsöffnung“ na der Decke in eine hellblaue Ovalfläche und differenzierte die östliche Fensterlaibung.

    Am 24.08.95 arbeitete Holger Bunk an der Westwand weiter. Die leere Fläche wurde ganz mit interessanten, dekorativen Strichmotiven gefüllt, in welche eine lebensgroße Gruppe von zwei männlichen Figuren gesetzt wurde. Damit waren jetzt alle Flächen im Raum malerisch geschlossen und der Gesamtraum vollkommen strukturiert: Die beiden gegenüberstehenden großen geschlossenen Wandflächen wiesen nun das gleiche System auf, Figuren kombiniert mit großen Farbflächen. Das Motiv der männlichen Gruppe war in seiner ersten Fassung bedrohlich und eindeutig. Der hinten stehende Mann fesselte dem vor ihm Knienden die Hände auf den Rücken (Abb. 6). Nur über diese Gruppe gab es ein Gespräch der Nutzer des Raumes mit Holger Bunk in welchem sie ihn baten, das Bedrohliche – wenn möglich – etwas abzumildern. Am nächsten Tag wurde diese Gruppe geändert (Abb. 7). Nun legt der kniende seine Hände vorn auf die Oberschenkel und ein frei schwebender Knüppel erscheint zwischen den beiden Männern. Ebenfalls neu tauchte ein kahles Geäst auf. Peter Mell beschäftigte sich inzwischen weiter mit der Decke. Das Blau wurde ganzflächig übergangen und aufgehellt. An der Ostwand kam es zu einem „Eingriff“ in den Landschaftshintergrund. Verschiedene Kreise, ein Gewölk, gemalte Farbnasen lockerten nun das strenge Weiß/Grau auf.

    In den nächsten Tagen beschäftigte sich Holger Bunk weiter mit der Westwand, blaue Formen wurden übe die schraffierte Fläche gezogen, der Baum an der Fensterwand erhielt mehr Blätter, das Selbstbildnis an der Decke wurde weiter überarbeitet. Peter Mell arbeitete an der Deckenscheibe, die noch „leichter“ gemacht wurde. Der perspektivische Rand verschwand, die eine Öffnung wurde vergittert und mit einem Gitterschatten versehen, die andere Öffnung durch eine braune Ovalfläche geschlossen. Nach einem Lattengerüst über der Eingangstür war für Peter Mell die Arbeit im Wesentlichen abgeschlossen, während Holger Bunk noch einige Tage an seinen Figuren und der Kugel malte. Kleine graue Autos wurden in der Landschaft platziert – ein Hinweis auf seine ersten Erfolge als Maler – ebenso ein kleines graues Gefäß mit einem Knüppelchen (Abb. 8), eine witzige, ironische Replik auf das blaue Gefäß mit Knüppel von Peter Mell. Der Deckenbalken erhielt eine gemalte Konsole, Verbindungskringel zwischen Ästen und Lattengerüst entstanden. Mit der Signatur an der Westwand unten (Abb. 9) und dem Anschrauben der grau gestrichenen Scheuerleisten war die Arbeit am 02.09.95 beendet. Den Schlusspunkt setzte dann am 08.09.95 Peter Mell, in dem er auf dem vorbereiteten Bolusgrund in der Laibung des östlichen Fensters eine Vergoldung anbrachte (Abb. 10-13).

    Nach Abschluss der Arbeiten schrieb Holger Bunk nachfolgenden Text in die Fotodokumentation8 über diesen Raum:

    Regensburger Zimmer

    Der Charakter des Raumes, die Tiefe der Tür- und Fensterlaibungen waren auch ohne Bemalung schon etwas Besonderes. Die Qualität des Raumes, die Dicke der Mauern (Festigkeit und Klima) sollten nicht durch Illusionen des Bildraumes überlagert werden. Die Farbigkeit durfte nicht Licht und Leichtigkeit wegnehmen. Trotzdem sind in der hellen Stimmung der Farben sehr dunkle Gewichte entstanden (= Massivität). Bildraum wie in der Landschaft hinter der Frauenfigur sollte die Flächigkeit der Wand nicht auflösen und ist deshalb wie in einer (schwarzweißen) Fotokollage zwischen farbige Partien eingesetzt. Das Gitter der laubenartigen Linien betont die Formen des Gebauten: Fenster, Decke und Wand, Raumecken, die Bäume machen ähnliche Linien. Schraffuren und transparente Farbschichten reagieren anders aufs Licht als dichte Flächen, damit der Raum nicht zugestrichen und von Farbfeldern zugebaut, von Bildgegenständen vollgestellt oder von Linien umklammert erscheint.

    H.(olger) B.(unk) 1.9.95 City of Rainsburgh

    Es erscheint erst einmal sinnvoll zu sein, auf die Gesamtstruktur dieses voll ausgemalten Raumes einzugehen, denn überwältigt von seiner Vielfarbigkeit mit den starken Einzelakzenten erschließt sie sich einem unbefangenen Betrachter nicht sofort Eine zentralperspektivische, einem einheitlichen System folgende Anordnung der einzelnen Teile der Ausmalung ist nicht festzustellen. Dennoch gibt es „Raumöffnungen“ (abgesehen von der Tür und den Fenstern), wie bei der Vaginaform, der Architekturmalerei und dem landschaftlichen Hintergrund hinter der Frauenfigur. Sehr geschickt ist die Architekturmalerei platziert, welche in gleicher Höhe der Türöffnung und der gegenüberliegenden Wand durch perspektivische Andeutungen diese Wand aufbricht und so beim Eintritt in den Raum kein beengtes Gefühl aufkommen lässt. Diese wenigen gemalten „Öffnungen“ stellen aber den geschlossenen Charakter der Wände nicht in Frage. Anders die Decke. Das helle Blau um die gelbe Deckenscheibe suggeriert eine Himmelsstruktur, eine Öffnung nach oben. Dieses Blau wird teilweise in die Wände hineingezogen und der Raum wirkt dadurch, trotz seiner starken, teils dunklen und schweren Flächen an den Wänden, nicht beengt. Die Massivität der raumumschließenden Mauern bleibt spürbar, die Malerei erdrückt nicht den Raum. Das ist ein erstaunliches Phänomen. Eine raffinierte Lichtinszenierung, ein weiteres Mittel zur Erzeugung tiefenräumlicher Wirkung, ist mehrfach anzutreffen. Sie tritt nicht den ganzen Raum organisierend auf, sondern eher lokal, an die jeweilige Darstellung gebunden. So bei der Frau inklusive Kugel mit Buch und Landschaftsdarstellung, wo das Licht von der Fensterseite hereinfallend angedeutet ist. Ebenso, aber noch mehr zurückgenommen, bei der Männergruppe gegenüber, während die Türfigur ein geheimnisvolles Licht von rechts, außerhalb des Raumes erhält. Schließlich wirft das Gitter bei der ovalen Deckenöffnung noch kleine Schlagschatten, die auf eine Lichtquelle von oberhalb der Deckenplatte verweisen. Der Deckenbalken wiederum hat eine verschattete, dunklere Seite, wobei die Lichtquelle hierfür nicht eindeutig auszumachen ist.

    Eine besondere Rolle bei der Lichtinszenierung nimmt selbstverständlich die Fensterfront des Raumes ein Es ist dabei aufschlussreich zu sehen, wie die dunkleren Farben der östlichen Fensterlaibung (Peter Mell) diese kleiner erscheinen lassen, und die helleren Farben beim gleichgroßen westlichen Fenster (Holger Bunk) diese optisch vergrößern. Und noch eine weitere, folgenreiche Gestaltung weisen die Fensterlaibungen auf: Beim östlichen Fenster ist die der aufgehenden Sonne gegenüberliegende Seite unten gelb angemalt, beim westlichen Fenster die der untergehenden Sonne gegenüberliegende Seite unten vergoldet. Diese Flächen reflektieren das Sonnenlicht und werfen je nach Sonnenstand ein geheimnisvolles Licht auf die gemalten Wände. Durch diesen „Lichttrick“ der Künstler ergibt sich eine Lebendigkeit und ständig wechselnde Erlebbarkeit des Raumes!

    Kompositionell ist die Malerei des Raumes vollkommen durchstrukturiert. An der Fensterwand ist bis in die Fensterbankhöhe eine Sockelzone gegeben, die noch einmal mit der Farbigkeit der Fassade der aus den Fenstern zu sehenden gegenüberliegenden Neuen Waag korrespondiert. Diese „Sockelzone“ wird indirekt an der Ost- und Westwand fortgeführt, in dem sich im unteren Bereich dieser Wände große Flächen befinden. Die Figuren (bis auf die Türfigur, die aber in Höhe der Sockelzonen mit einem tieferen Blau einen abgestuften Hintergrund aufweist) befinden sich über dieser Zone. Das hat einen praktischen Grund, denn durch eine Möblierung des Raumes (momentan ein großer Tisch mit Bestuhlung in der Raummitte) werden die unteren Wandpartien teils verdeckt oder überschnitten. Durch die gewählte Anordnung bleiben die „Hauptattraktionen“ voll sichtbar, auch bei wechselnden Möblierungen.

    Die Anfangsidee des illusionistischen Lattenrostes (Abb. 3) ist modifiziert beibehalten worden. Es liegt nun eine durchgängige Struktur vor, welche die figürlichen Teile der Ost- und Westwand verbindet: Von der Kugel, auf welcher die Frau sitzt, steigen Latten auf, die über das Lattengerüst an der Decke die Verbindung zum Baum der Fensterfront geben. Ein Seitenast des Baumes berührt das von einer Astgabel getragene Lattengerüst, von dem wiederum die Vaginaform über eine Latte die Linie zum kahlen Baum der Westwand weiterführt, der die dortige männliche Figurengruppe einbindet. In einem durchgängigen Ablauf verbindet demnach Holger Bunk seine Figurengruppen, während der Zusammenhang der Farbflächen und der Architekturmalerei von Peter Mell über den Himmel der Decke erfolgt. So gesehen existieren zwei „Raumschichten“, eine vordere, ab den Fenstern entlanggehend, die Holger Bunk zuzuweisen ist, und eine hintere Raumschicht mit der Deckenbrücke, die zu Peter Mell gehört. Innerhalb der Malbereiche gibt es jeweils kleine „Einsprengsel“ des anderen Künstlers: Die Türfigur, das Selbstbildnis und die Deckenbalkenkonsole von Holger Bunk im „Bereich“ von Peter Mell, die Eckmalerei hinter der Frau auf der Kugel, die Sockelpartie der Fensterwand und die östliche Fensterlaibung von Peter Mell im „Bereich“ von Holger Bunk. Es findet sozusagen ein „fairer“ Ausgleich statt, der zeigt, dass beide Künstler in Harmonie miteinander gearbeitet haben und keiner den anderen „ausstechen“ wollte. Das Experiment, zwei unterschiedliche Künstlertemperamente mit einer gemeinsamen Raumausmalung zu beauftragen, kann als geglückt angesehen werden. Es zeigt sich, dass die Ausmalung dieses Raumes, obwohl der erste Eindruck dem entgegensteht, von der Sockelzone über den figürlichen Bereich bis zur Deckenzone in einer durchgehenden, in sich logischen Abfolge, aufgebaut ist.

    Bevor nun eine zusammenfassende Analyse versucht wird, sollen noch einmal die Künstler zu Wort kommen, die sich im Abstand von 3 Jahren nochmals zu ihrer Arbeit äußerten. Holger Bunk schrieb am 07.03.1999 an den Verfasser dieses Beitrags:

    „Die ersten Ideen für das ‚Regensburger Zimmer‘ entstanden beinahe automatisch durch die Übereinkunft von Peter Mell und Holger Bunk, den Charakter und die Nutzung des Raumes bestehen zu lassen und durch die Ausmalung eher zu unterstreichen als zu verändern.

    Die für die Regensburger Altstadt typische Bauweise des Zimmers mit tiefen Fenster- und Türleibungen, sowie einer niedrigen Deckenhöhe sollte benutzt werden. Durch Farbflächen und Bildaufbau der figurativen Teile sollten die realen Dimensionen für das Auge und das Gefühl nicht verloren gehen. Aber gleichzeitig sollte der Raum als Studier- und Wohnkammer eines Kunsthistorikers auch illusionistische Elemente erhalten, die für die Öffnung der Vorstellungskraft, die Phantasie stehen und die auf die Gegenstände kunsthistorischer Tätigkeit des Benutzers des Raumes anspielen.

    In den verschiedenen Malweisen von Bunk und Mell treten Bildebenen und verschiedener Farbgebrauch miteinander in Konkurrenz, wie Gedanken in einem Gespräch, das in einem solchen Raum stattfinden kann. Der Raum ist Ort von Kontemplation und Konzentration, ist aber auch vorstellbar für Gesprächs- und Tafelrunden. Der Kunsthistoriker nimmt seine sinnliche Wahrnehmung, seine Beobachtung zum Anlass, darüber zu denken und zu schreiben. Die selbst gewählte Spannung zwischen Sinneseindruck, Sinnlichkeit, Sinnesgenuss und intellektueller Strenge des Kunsthistorikers wurde Thema des ausgemalten Raumes.

    Die Reaktion auf die bestehenden Dimensionen des Zimmers, das Ausbalancieren von ‚schweren‘ und ‚leichten‘ Flächen, ‚aktiven‘ und ‚zurückhaltenden‘ Farben, von dichtem und transparentem Farbauftrag, von fragmentierten und in sich abgeschlossenen Bildteilen entsprechen dieser Spannung von Sinnen und Intellekt, die das Geschehene zum Ausgangspunkt fürs Denken macht, das Denken zum Maßstab des Gesehenen. In ähnlicher Verschränkung sind die Motive der Raumausmalung aufeinander bezogen und sollen eine Dynamik der Betrachtung in Gang setzen.

    Der Raum als Teil eines Gebäudes, das wiederum Teil eines besonderen Stadtraumes ist, wird durch die perspektivisch und gleichzeitig flächig gemalten Architekturmotive Peter Mells gezeigt. Durch die Malweise und die rote Farbigkeit der gemalten Bauwerke ist ihre Darstellung optisch verbunden mit den konkreten roten und auch den andersfarbigen Malereifeldern an der Wand, die die Flächigkeit betonen und dadurch das Gegengewicht zu den illusionistischen Partien der Malerei bilden.
    Die Figuren der Wandmalerei sind nicht direkt lesbar in ihren Gesten oder ihrer Symbolik, sie handeln jedoch allesamt von der Ambivalenz oder sogar der Gefährdung der Erkennbarkeit und der Erkenntnis (Erkenntnis als Ziel der kunstgeschichtlichen Betrachtungen, aber auch darüber hinaus).

    Die mysteriöse Figur, die sich hinter der Tür am Eingang des Raumes verbirgt und dort erst beim Hinausgehen bemerkt wird, ist in der Farbigkeit reduziert auf ein Schwarz mit rotem Schlagschattten aus einer Lichtquelle, die nicht erkennbar ist. Sie kann in ihrer Passivität als unberechenbar erscheinen. Sie hat keinen Halt in einem perspektivischen Bildraum, außer einer winzigen – nur angedeuteten – Sitzfläche, die die Situation der Figur als völlig künstlich ausweist.

    Für Willkür und ebenfalls Künstlichkeit (einer puren Erfindung) steht die Figurengruppe von zwei in schwarz-weiß gemalten Männerfiguren, die sich gegenseitig etwas anzutun scheinen, ohne das deutlich wird, was es ist und ob es im Ernst geschieht.

    Neben der üppigen Blondine an der gegenüberliegenden Wand liegt – gemalt wie sie – auf einem Stein von Findlingsformat Arno Schmidts Buch ‚belphegor‘, das sich in der Bibliothek des Auftraggebers wie auch des Malers Holger Bunk findet. Es handelt von teilweise vergessenen Geistesgrößen, die ohne Zweifel mit ihren Studien und ihren geistigen Errungenschaften zum wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt beigetragen haben, allerdings ohne ihrer Umgebung den Gefallen zu tun, nach Konventionen zu leben und ihren Drang nach Forschung in irgendeiner Form diesen unterzuordnen. Der Untertitel des Buches ‚oder wie ich euch hasse‘ weist auf das schwierige Verhältnis dieser geistig tätigen Individuen zur Gesellschaft hin, die das neue Wissen nicht gerade immer freudig aufnimmt. Im Kontext der Raumausmalung in Regensburg kann man den Buchtitel auf die parallele Situation des dort intellektuell Tätigen beziehen, der vielleicht die Privilegien eines angenehmen Raumes, einer Bibliothek oder sonstiger Versorgung genießt, aber mit seiner geistigen Produktion nicht auf Verständnis rechnen kann.

    Die ‚Blondine‘ entspricht – demgegenüber eher tröstend – den von Arno Schmidt in anderen seiner Werke immer wieder beschriebenen Frauen, die ihn als erklärten Denker unruhig machten und vor Augen führten, dass bei aller Denkerei, allem Fortschritt durch Intellekt, auch Sinnlichkeit und Körperlichkeit die geistige Dynamik des Menschen mitbestimmen.“

    Am 15.03.99 schrieb Peter Mell folgende Zeilen:

    „Zum Regensburger Zimmer

    Also Holger nahm 3 Tage frei und fuhr nach Amsterdam. Ich nahm 5 Tage frei, weil meine Farbflächen ja schneller gemalt waren als Holgers wahrlich wunderbar altmeisterliche Illusionsmalerei. Er braucht einfach immer länger für alles. Seine Ergebnisse waren natürlich zwangsläufig immer viel schöner als meine, zumindest meint man das anfänglich. Sich ändernde Anschauungsmethoden werden auch das wieder ändern. Als ich unvorbereitet unser Malzimmer betreten hatte, mich umdrehte zur Türwand, saß der Hieb! Sie war blond, drall, zärtlich, geil. Was war 3 Tage lang los gewesen? So eine wundervoll Zerstrobelte hatte er noch nie gemalt, ihm glückten sonst doch meist die großen, knochigen Jungs in kurzen, schwarzen Turnhosen. Eine Welle der Wärme überflutete mich, eifersüchtig: So ein schönes Wochenende hatte er gehabt? Sofort machte ich mich gegenüber der Blonden an meine brennende Stadt, errichtete einen Turm, eindeutig inspiriert von Holgers erigiertem Schwanz und somit zum Gelungensten gehörend, was mir in diesem Zimmer gelang (abgesehen vielleicht vom grauen Rechteck in der Nähe der beiden Jungs mit dem Knüppel, wo ich beim Malen ganz bei mir war).“

    Beide Künstler haben vor Beginn ihrer Arbeit im Kloster Weltenburg das System einer barocken Raumgestaltung eingehend studiert. Sie empfanden dies als notwendig, da für sie erstmals das Problem einer kompletten Raumausmalung zu bewältigen war. Es ist daher von Interesse, ob – außer dem Selbstporträt von Holger Bunk an der Decke – sich weitere Bezüge zu einer barocken Raumkonzeption finden lassen.

    Ganz allgemein ist erst einmal eine Berücksichtigung von Raum und Auftraggeber festzustellen. Auch in der Barockzeit war der architektonisch vorgegebene Raum die „Stimmgabel“ für dessen künstlerische Ausgestaltung und es mussten – oft streng vorgeschriebene – profane oder religiöse Programme bildlich umgesetzt werden.

    Es ist bemerkenswert, dass diese Vorgehensweise von Gegenwartskünstlern Anwendung findet und die mögliche Selbstdarstellung – es wurden vom Auftrag her keinerlei Auflagen gemacht – hintenangestellt wurde. Diese Vorgehensweise ist vielleicht mit ein Grund dafür, das die Malerei dieses Raumes trotz ihrer Vielgestaltigkeit nicht auseinander fällt, dass ein in sich geschlossener und stimmiger Eindruck vorherrscht, der um so deutlicher hervortritt, je länger man sich in diesem Raum aufhält und je intensiver man sich mit dieser Malerei beschäftigt.

    Die Unterschiede zu einer barocken Raumgestaltung sind dennoch mit den Händen zu fassen: Präsentiert sich ein barocker Raum, auch wenn mehrere Künstler an seiner Ausgestaltung beteiligt waren, als ein einheitliches Ganzes, so sind hier die beiden verschiedenen künstlerischen Handschriften sofort ablesbar. Ist die barocke Gestaltung einer formal ablesbaren „großen Ordnung“ unterworfen (einheitliches, durchgehendes Dekorationssystem von der Säulenbasis bis zur Himmelsöffnung), so muss die Struktur dieses modernen Raumes erst einmal „entschlüsselt“ werden, bevor sie sich zu einem Ganzen fügt.

    Auf die Probleme eines Zeitstils oder Individualstils soll in diesem Zusammenhang nicht näher eingegangen werden, aber es zeigt sich deutlich, dass zwar einheitliche Ausgangsüberlegungen bei der Arbeit der beiden Künstler eine Rolle spielten, aber ihre individuelle Handschrift von dominierender Wirkung bei der Ausführung bleibt.

    Als Ergebnis der Zusammenarbeit von Holger Bunk und Peter Mell (Abb. 14) ist ein moderner Raum entstanden, in dem eigene Kunstprobleme reflektiert werden, wie z.B. die heutige Darstellbarkeit der menschlichen Figur oder die Wirkung von Farbstimmungen. Hinzu kommen individuelle Befindlichkeiten der Künstler selbst und ihre jeweiligen Reflektionen über die gegenwärtige Kunstproduktion. Es ist dadurch ein „freier“ Raum entstanden, jenseits von dekorativen Vorstellungen. Dieses Beispiel zeigt, dass auch in denkmalgeschützten Bauten aktuelle künstlerische Gestaltungen möglich sind.


    1. Es handelt sich um den südwestlich gelegenen Wohnraum im 2. OG dieses Gebäudes. Maße ca. 5,30 × 5,10 m, 2,80 m hoch. Das so genannte Altmannsche Haus ist ein bedeutendes, denkmalgeschütztes Patriziergebäude mit Bauteilen seit der Romanik. Von 1512–1612 befand sich hier die Reichsstädtische Münze, direkt neben dem Alten Rathaus gelegen. Literatur zuletzt: Denkmäler in Bayer, Bd. III.37, Stadt Regensburg, Hrsg. Michael Petzet, Regensburg 1997, S. 398.
    2. Ausstellungskatalog „Peter Mell. Übermalte Siebdrucke“, Städtisches Bodensee-Museum Friedrichshafen, 26. Mai – 26. Juni 1988. Text Lutz Tittel, Übermalte Siebdrucke von Peter Mell, S. 7–15. Siehe auch den Ausstellungskatalog „Peter Mell“, Museum Folkwang Essen, 20.11.1987 – 10.1.1988, mit Texten von Hartmut Riederer und Ulrich Krempel.
    3. Ausstellungskatalog „Peter Mell. Geheimnisse der Klarheit“, Galerie Schedle & Arpagaus Zürich und Galerie Bernd Lutze Friedrichshafen, Zürich und Friedrichshafen 1990. Text Lutz Tittel, Farbträume und Farbklänge, S. 9–23.
    4. Katalog Zürich und Friedrichshafen 1990 (Anm. 3), Text auf S. 4:

      „Fußboden, Wände, Decke Fenster, Türen
      gelb, ein völlig sonnengelber Raum.
      Einander gegenüber stehen am Boden zwei
      kelchförmige, aus Kleister und Seiden-
      papier gefertigte Gefäße. Ein rotes, gefüllt
      mit rotem Pigment, ein blaues gefüllt mit
      blauem.
      Die Größe der Gefäße richtet sich nach
      der Größe des Raumes: eher sind sie klein.
      Peter Mell, 13. Nov. 88“

    5. Holger Bunk und Peter Mell. Zusammenarbeit. Bilder und Objekte aus den Jahren 1993 und 1994, Galerie Rainer Wehr, Stuttgart 14.9. – 4.11.1994.
    6. Ausstellungskatalog „Holger Bunk“, Mannheimer Kunstverein 20.4. – 25.5.1986 und Spendhaus Reutlingen 29.6. – 10.8.1986 mit Texten von Friedrich W. Kasten, Anni Bardon und Stephan von Wiese. Ausstellungskatalog „Holger Bunk. Installationen“, Westfälischer Kunstverein Münster 6.7. – 26.8.1990 und Portikus Frankfurt am Main 2.3. – 7.4.1990 mit Texten von Friedrich Meschede und Gregor J. M. Weber. Zuletzt Ausstellungskatalog „Holger Bunk. Das Labor der Bilder“, Ulmer Museum 29.11.1998 – 10.1.1999 mit Texten von Brigitte Reinhardt, Friedrich Meschede und Mariska van den Berg.
    7. Auf die Wände wurde ein grundiertes Baumwollgewebe SG 1 (boesner) geklebt. Rollenmaß 1,50 × 10,0 m.
    8. Über die Arbeit der beiden Künstler hat der Verfasser eine Fotodokumentation angelegt, in welcher die täglichen Arbeitsschritte festgehalten wurden.

    Von Dr. Lutz Titel

    Wandmalerei gilt als eine der ältesten künstlerischen Betätigungen der Menschen (paläolithische Höhlenmalerei). Sie war von jeher mit höheren Ansprüchen als an ein transportables Einzelbild verbunden. Die Malfläche ist ortsfest („monumental“, daher oft auch Wandmalerei = Monumentalmalerei). In der Regel liegt eine öffentliche Zugängigkeit vor und die Größe der Malfläche ermöglicht zyklische Darstellungen. Von daher eignete sich die Wandmalerei bestens zur Darstellung von Macht und Pracht sowie zur politischen und religiösen Beeinflussung der Menschen. Es sei in diesem Zusammenhang nur kurz an die mittelalterlichen Freskenzyklen in Kirchen, Burgen und Rathäusern erinnert, ebenso an die großen Wandmalereien der Renaissance und der Barockzeit, ja selbst noch an die monumentalen Wandmalereien in repräsentativen Gebäuden des 19. Jahrhunderts.

    Im 20. Jahrhundert, besonders nach 1945, scheint diese Kunstgattung (abgesehen von Diktaturen, welche die öffentliche Propagandamalerei an Außen- und Innenwänden weiterhin benutzen, ja sogar bewusst für ihre Zwecke zu erneuern suchten) keine große Bedeutung mehr zu haben. Sie erscheint heute nahezu verschwunden. Die Gründe dafür mögen vielfältig sein. Sicher hat die moderne Kunstentwicklung nach 1900 mit der intellektuellen Ausrichtung auf das Einzelwerk, die totale Freisetzung der Ideen und die Einbeziehung aller Materialien in eine künstlerische Gestaltung genauso viel zum Versiegen dieser alten Kunstform beigetragen wie neue gesellschaftliche Leitbilder, ein neues „Lebensgefühl“. Entscheidend für das Ende der Wandmalerei in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dürften aber neue öffentliche Repräsentationsformen und die Entwicklung der neuen Medien sein. Es ist heute in der Tat anachronistisch, mit großen (öffentlichen oder privaten) Wandmalereien Reichtum und Macht zur Schau stellen zu wollten, oder sie als Bildungs- und Propagandamittel einzusetzen. Dies leisten heute effektiver andere Beeinflussungsformen, wie z.B. das Fernsehen.

    Der Verfasser dieses Beitrags hatte 1995 Peter Mell und Holger Bunk vorgeschlagen, einen Wohnraum im Altmannschen Haus (Neue-Waag-Gasse 2)1 auszumalen. Die Anregung dazu kam von den erhaltenen spätmittelalterlichen Freskenresten in diesem Gebäude, verbunden mit der Absicht, Künstlern heute eine interessante Aufgabe zu stellen. Es ist gewiss nicht einfach, einen dreidimensionalen Raum vollständig auszumalen, wenn die bisherige Tätigkeit überwiegend dem zweidimensionalen Tafelbild galt.

    Mit Peter Mell war der Autor schon seit seiner Bodenseezeit bekannt.2 In einer Züricher Galerie hatte Mell zwar schon einmal einen Raum gestaltet3 ,aber dort wurde die „Bildvorstellung“ der Grundfarben Blau-Rot-Gelb thematisiert, die im vorgegebenen Raum erwirklicht wurde.4 Peter Mell hatte 1993 und 1994 mehrmals mit Holger Bunk zusammengearbeitet. Die Ergebnisse dieser Teamarbeit waren in der Stuttgarter Galerie Rainer Wehr zu sehen.5 Von daher erschien es spannend, wie diese beiden Künstler, die sehr unterschiedlich arbeiten (vereinfacht ausgedrückt: Holger Bunk figürlich und Peter Mell Farbflächen malend), das Problem einer gemeinsamen Raumgestaltung lösen würden, denn auch Holger Bunk hatte sich in seinen Gemälden und Installationen oft mit teilweise komplizierten Raumkonstruktionen befasst.6

    Den Künstlern wurde zunächst ein Raumplan zugeschickt und nach ersten Beratungen erklärten sie sich bereit, die Aufgabe – den Raum vollständig auszumalen – zu übernehmen. Vorgaben wurden keine gemacht, die Künstler hatten bei der Gestaltung völlig freie Hand. Am Anfang wurde vom Auftraggeber vorgeschlagen, die Malerei direkt auf den Wänden und an der Decke anzubringen. Hier kam es aber zu einer ersten, wichtigen Änderung: Die Künstler entschieden sich dafür, nicht direkt auf der Wand zu malen, sondern auf einer vorgrundierten Leinwand7 , die mit einer Mischung aus Tapetenkleister und Caparol-Binder im Verhältnis 1:1 fugenlos (mit anstoßenden, glatt geschnittenen Kanten) auf die Wand geklebt werden sollte. Dadurch umgingen sie sämtliche technische Probleme der Wandmalerei (Wahl der Technik, ob Fresko, Secco, Enkaustik etc.) und es lag ihnen letztlich ein Malgrund vor, auf dem die Acrylmalerei des Ateliers problemlos fortgeführt werden konnte. Und noch ein Weiteres: Durch diese Entscheidung wurde letztlich das Unverrückbare der Wandmalerei (obwohl es heute mittlerweile Techniken zur Lösung und Bergung von ortsfester Wandmalerei gibt) aufgehoben, denn die aufgeklebte Leinwand ist ablösbar und kann wieder in anderen Zusammenhängen gezeigt werden. Vielleicht hat diese Möglichkeit – wenn auch unbewusst – die Ausmalung dieses Raumes mit beeinflusst.

    Die Künstler trafen sich im Juni/Juli 1995 zu einigen Gesprächen (Abb.1) und nach einem regen Austausch (Abb. 2) waren dann die Vorbereitungen soweit gediehen, dass am 18. August 1995 die gemeinsame Arbeit begonnen werden konnte. Holger Bunk hatte eine kleine Skizze (Tinte und Rotstift, Abb. 3) mitgebracht, die erste Überlegungen festhielt: illusionistischer Lattenrost, der abrupt in der Fläche endet und nur Teile der bemalten Wände „einrahmt“. Irrational gehen laubenartige Latten in wachsende Pflanzen über(?).“ Aufschlussreich ist es, dass beide Künstler gemeinsam vor Beginn der Arbeiten Kloster Weltenburg besuchten, um eine barocke Raumgestaltung zu studieren. Das Selbstporträt von Holger Bunk an der Decke (Abb. 4) kann somit auch als eine Hommage an Cosmas Damian Asam und seinen Bruder Egid Quirin Asam (Stuckbildnis des Cosmas Damian Asam, modelliert von Egid Quirin Asam im Kronreif über der Wölbschale) angesehen werden.

    Am ersten Tag der gemeinsamen Arbeit legte Holger Bunk die Umrisse der Figur in der Türlaibung, die Frau auf der Kugel (am Anfang hatte sie noch Blumen in der Hand, Abb. 5) fest, skizzierte den Baum, das Lattengerüst und das Selbstbildnis an der Decke. Peter Mell widmete sich zuerst ganz der Decke. Eine lichtgelbe Deckenscheibe mit zwei Öffnungen und einem Tragbalken, umgeben von blauer Farbe wurde gemalt. Es zeigte sich sofort, dass die Platz- bzw. Raumverteilung zwischen den Künstlern schon vorher weitestgehend abgesprochen war, denn gleich am ersten Tag wurden die figürlichen Akzente gesetzt, die später beibehalten wurden. Peter Mell ging vernünftigerweise noch nicht an die Wände, da erst einmal die Platzierung und Wirkung der Figuren, welche gegenüber den Farbflächen eine stärkere Präsenz haben, abgewartet werden musste.

    Am nächsten Tag umriss Holger Bunk die Vaginaform in der Südwestecke des Raumes, arbeitete an der Türfigur, malte die Kugel voller aus, der jetzt eine kleinere, rote Kugel beigegeben wurde, nahm die Blumen aus der Hand der Frau weg und legte dafür neu ein Buch auf die Kugel. Mit den Grundfarben Blau, Rot und Gelb malte Peter Mell nun die Türlaibung aus, die Deckenplatte wurde akzentuiert, die eine Deckenplattenöffnung wurde als Ausblick in einen nächtlichen Sternenhimmel gestaltet.

    Holger Bunk – »Wohnung von Dr. Lutz Tittel«
    Blick in die ausgemalte Bibliothek der Wohnung von Dr. Lutz Tittel. Die gemeinsame Arbeit mit Peter Mell wurde inzwischen überstrichen.

    Am dritten Tag arbeitete Holger Bunk an der Kugel weiter und widmete sich der Fensterwand, an der nun eine querovale Form auftauchte. Damit wurde direkt das Fenstermotiv der gegenüberliegenden Neuen Waag in den Raum hineingezogen. Die Türfigur wurde fast fertig gestellt, der Baum weiter ausgemalt. Auch Peter Mell reagierte auf die Farbigkeit der Fassade der Neuen Waag, indem er die östliche Fensterlaibung in einem gedeckten, rötlichbraunen Ton ausmalte.

    Hier ist vielleicht der Platz, kurz auf die unterschiedliche Maltechnik der beiden Künstler einzugehen. Beide benutzten Acrylfarben. Holger Bunk „Fertigfarben“ aus der Tube, während Peter Mell Pigmente und Binder mitbrachte und sich seine Farben jeweils neu zusammenmischte. Beide nahmen dann Pappteller (bzw. kleine Plastikschüsseln bei größeren Farbflächen) als „Paletten“, auf denen die jeweils benötigten Farbportionen zusammengestellt wurden. Die Farben aus den Tuben wirkten insgesamt stumpfer, kompakter, deckender, diese Wirkung wurde aber durch die Technik von Holger Bunk, seine Figuren mehrmals zu übergehen, auszudifferenzieren, wieder teilweise aufgehoben, da durch die mehrfachen Farbschichten Plastizität und Tiefe entstanden. Je nach künstlerischer Absicht mischte Peter Mell seine Farben neu, von einem kompakten Grau (eine sehr schöne, gleichmäßige Fläche) bis zu einem samtigen, tiefen Ultramarinblau und einem dünnflüssigen Rot, das eine fast lasierende Malerei wie bei seinem Architekturmotiv ermöglichte.

    Nach dem dritten Tag begann Peter Mell an der Westwand mit dem Architekturmotiv und den Farbfeldern in Grau und Grün. Der phallusartige Turm bildete das Gegenstück zur Vaginaform und dieses „Lebensmotiv“ der ersten Skizze (Abb. 3) hatten nun eine formale Steigerung bei einem gleichzeitig höheren Abstraktionsgrad erfahren. Mit Beginn der Arbeit an der Westwand wurde der Gesamtraum langsam geschlossen. Peter Mell hatte sich zu wenigen, großen Flächen entschlossen, was sicher die richtige Reaktion auf die Intensität der Bunkschen Figuren war. An der Ostwand gegenüber entstanden die verkanteten Farbflächen in Gelb und Ultramarinblau, wobei die dunkelblaue Fläche einen schönen Gegenpol zur massiven, dunkelbraunen Kugel rechts unten an dieser Wand bildete. Holger Bunk legte den Landschaftshintergrund beim Mädchen auf der Kugel an und widmete sich der Fensterwand. Das Querovalmotiv wurde zugunsten von ruhiger wirkenden rechteckigen Flächen eliminiert. Die Fensterlaibung des westlichen Fensters wurde mit einem hellen Grau bemalt, neben der Heizung darunter eine „Grünschlange“ vor dunklem Hintergrund angebracht. Bis auf die linke Hälfte der Westwand war nun die Raumdisposition klar.
    Holger Bunk fuhr für zwei Tage nach Amsterdam und Peter Mell malte in dieser Zeit das gedeckte Rotfeld an der Westwand, den blauen Eimer mit einem „Bewegungsknüppel“ im Architekturmotiv, den Deckenanschluss (Blauflächen) an der Westwand, die Felder über der Bücherwand, änderte die dunkle „Himmelsöffnung“ na der Decke in eine hellblaue Ovalfläche und differenzierte die östliche Fensterlaibung.

    Am 24.08.95 arbeitete Holger Bunk an der Westwand weiter. Die leere Fläche wurde ganz mit interessanten, dekorativen Strichmotiven gefüllt, in welche eine lebensgroße Gruppe von zwei männlichen Figuren gesetzt wurde. Damit waren jetzt alle Flächen im Raum malerisch geschlossen und der Gesamtraum vollkommen strukturiert: Die beiden gegenüberstehenden großen geschlossenen Wandflächen wiesen nun das gleiche System auf, Figuren kombiniert mit großen Farbflächen. Das Motiv der männlichen Gruppe war in seiner ersten Fassung bedrohlich und eindeutig. Der hinten stehende Mann fesselte dem vor ihm Knienden die Hände auf den Rücken (Abb. 6). Nur über diese Gruppe gab es ein Gespräch der Nutzer des Raumes mit Holger Bunk in welchem sie ihn baten, das Bedrohliche – wenn möglich – etwas abzumildern. Am nächsten Tag wurde diese Gruppe geändert (Abb. 7). Nun legt der kniende seine Hände vorn auf die Oberschenkel und ein frei schwebender Knüppel erscheint zwischen den beiden Männern. Ebenfalls neu tauchte ein kahles Geäst auf. Peter Mell beschäftigte sich inzwischen weiter mit der Decke. Das Blau wurde ganzflächig übergangen und aufgehellt. An der Ostwand kam es zu einem „Eingriff“ in den Landschaftshintergrund. Verschiedene Kreise, ein Gewölk, gemalte Farbnasen lockerten nun das strenge Weiß/Grau auf.

    In den nächsten Tagen beschäftigte sich Holger Bunk weiter mit der Westwand, blaue Formen wurden übe die schraffierte Fläche gezogen, der Baum an der Fensterwand erhielt mehr Blätter, das Selbstbildnis an der Decke wurde weiter überarbeitet. Peter Mell arbeitete an der Deckenscheibe, die noch „leichter“ gemacht wurde. Der perspektivische Rand verschwand, die eine Öffnung wurde vergittert und mit einem Gitterschatten versehen, die andere Öffnung durch eine braune Ovalfläche geschlossen. Nach einem Lattengerüst über der Eingangstür war für Peter Mell die Arbeit im Wesentlichen abgeschlossen, während Holger Bunk noch einige Tage an seinen Figuren und der Kugel malte. Kleine graue Autos wurden in der Landschaft platziert – ein Hinweis auf seine ersten Erfolge als Maler – ebenso ein kleines graues Gefäß mit einem Knüppelchen (Abb. 8), eine witzige, ironische Replik auf das blaue Gefäß mit Knüppel von Peter Mell. Der Deckenbalken erhielt eine gemalte Konsole, Verbindungskringel zwischen Ästen und Lattengerüst entstanden. Mit der Signatur an der Westwand unten (Abb. 9) und dem Anschrauben der grau gestrichenen Scheuerleisten war die Arbeit am 02.09.95 beendet. Den Schlusspunkt setzte dann am 08.09.95 Peter Mell, in dem er auf dem vorbereiteten Bolusgrund in der Laibung des östlichen Fensters eine Vergoldung anbrachte (Abb. 10-13).

    Nach Abschluss der Arbeiten schrieb Holger Bunk nachfolgenden Text in die Fotodokumentation8 über diesen Raum:

    Regensburger Zimmer

    Der Charakter des Raumes, die Tiefe der Tür- und Fensterlaibungen waren auch ohne Bemalung schon etwas Besonderes. Die Qualität des Raumes, die Dicke der Mauern (Festigkeit und Klima) sollten nicht durch Illusionen des Bildraumes überlagert werden. Die Farbigkeit durfte nicht Licht und Leichtigkeit wegnehmen. Trotzdem sind in der hellen Stimmung der Farben sehr dunkle Gewichte entstanden (= Massivität). Bildraum wie in der Landschaft hinter der Frauenfigur sollte die Flächigkeit der Wand nicht auflösen und ist deshalb wie in einer (schwarzweißen) Fotokollage zwischen farbige Partien eingesetzt. Das Gitter der laubenartigen Linien betont die Formen des Gebauten: Fenster, Decke und Wand, Raumecken, die Bäume machen ähnliche Linien. Schraffuren und transparente Farbschichten reagieren anders aufs Licht als dichte Flächen, damit der Raum nicht zugestrichen und von Farbfeldern zugebaut, von Bildgegenständen vollgestellt oder von Linien umklammert erscheint.

    H.(olger) B.(unk) 1.9.95 City of Rainsburgh

    Es erscheint erst einmal sinnvoll zu sein, auf die Gesamtstruktur dieses voll ausgemalten Raumes einzugehen, denn überwältigt von seiner Vielfarbigkeit mit den starken Einzelakzenten erschließt sie sich einem unbefangenen Betrachter nicht sofort Eine zentralperspektivische, einem einheitlichen System folgende Anordnung der einzelnen Teile der Ausmalung ist nicht festzustellen. Dennoch gibt es „Raumöffnungen“ (abgesehen von der Tür und den Fenstern), wie bei der Vaginaform, der Architekturmalerei und dem landschaftlichen Hintergrund hinter der Frauenfigur. Sehr geschickt ist die Architekturmalerei platziert, welche in gleicher Höhe der Türöffnung und der gegenüberliegenden Wand durch perspektivische Andeutungen diese Wand aufbricht und so beim Eintritt in den Raum kein beengtes Gefühl aufkommen lässt. Diese wenigen gemalten „Öffnungen“ stellen aber den geschlossenen Charakter der Wände nicht in Frage. Anders die Decke. Das helle Blau um die gelbe Deckenscheibe suggeriert eine Himmelsstruktur, eine Öffnung nach oben. Dieses Blau wird teilweise in die Wände hineingezogen und der Raum wirkt dadurch, trotz seiner starken, teils dunklen und schweren Flächen an den Wänden, nicht beengt. Die Massivität der raumumschließenden Mauern bleibt spürbar, die Malerei erdrückt nicht den Raum. Das ist ein erstaunliches Phänomen. Eine raffinierte Lichtinszenierung, ein weiteres Mittel zur Erzeugung tiefenräumlicher Wirkung, ist mehrfach anzutreffen. Sie tritt nicht den ganzen Raum organisierend auf, sondern eher lokal, an die jeweilige Darstellung gebunden. So bei der Frau inklusive Kugel mit Buch und Landschaftsdarstellung, wo das Licht von der Fensterseite hereinfallend angedeutet ist. Ebenso, aber noch mehr zurückgenommen, bei der Männergruppe gegenüber, während die Türfigur ein geheimnisvolles Licht von rechts, außerhalb des Raumes erhält. Schließlich wirft das Gitter bei der ovalen Deckenöffnung noch kleine Schlagschatten, die auf eine Lichtquelle von oberhalb der Deckenplatte verweisen. Der Deckenbalken wiederum hat eine verschattete, dunklere Seite, wobei die Lichtquelle hierfür nicht eindeutig auszumachen ist.

    Eine besondere Rolle bei der Lichtinszenierung nimmt selbstverständlich die Fensterfront des Raumes ein Es ist dabei aufschlussreich zu sehen, wie die dunkleren Farben der östlichen Fensterlaibung (Peter Mell) diese kleiner erscheinen lassen, und die helleren Farben beim gleichgroßen westlichen Fenster (Holger Bunk) diese optisch vergrößern. Und noch eine weitere, folgenreiche Gestaltung weisen die Fensterlaibungen auf: Beim östlichen Fenster ist die der aufgehenden Sonne gegenüberliegende Seite unten gelb angemalt, beim westlichen Fenster die der untergehenden Sonne gegenüberliegende Seite unten vergoldet. Diese Flächen reflektieren das Sonnenlicht und werfen je nach Sonnenstand ein geheimnisvolles Licht auf die gemalten Wände. Durch diesen „Lichttrick“ der Künstler ergibt sich eine Lebendigkeit und ständig wechselnde Erlebbarkeit des Raumes!

    Kompositionell ist die Malerei des Raumes vollkommen durchstrukturiert. An der Fensterwand ist bis in die Fensterbankhöhe eine Sockelzone gegeben, die noch einmal mit der Farbigkeit der Fassade der aus den Fenstern zu sehenden gegenüberliegenden Neuen Waag korrespondiert. Diese „Sockelzone“ wird indirekt an der Ost- und Westwand fortgeführt, in dem sich im unteren Bereich dieser Wände große Flächen befinden. Die Figuren (bis auf die Türfigur, die aber in Höhe der Sockelzonen mit einem tieferen Blau einen abgestuften Hintergrund aufweist) befinden sich über dieser Zone. Das hat einen praktischen Grund, denn durch eine Möblierung des Raumes (momentan ein großer Tisch mit Bestuhlung in der Raummitte) werden die unteren Wandpartien teils verdeckt oder überschnitten. Durch die gewählte Anordnung bleiben die „Hauptattraktionen“ voll sichtbar, auch bei wechselnden Möblierungen.

    Die Anfangsidee des illusionistischen Lattenrostes (Abb. 3) ist modifiziert beibehalten worden. Es liegt nun eine durchgängige Struktur vor, welche die figürlichen Teile der Ost- und Westwand verbindet: Von der Kugel, auf welcher die Frau sitzt, steigen Latten auf, die über das Lattengerüst an der Decke die Verbindung zum Baum der Fensterfront geben. Ein Seitenast des Baumes berührt das von einer Astgabel getragene Lattengerüst, von dem wiederum die Vaginaform über eine Latte die Linie zum kahlen Baum der Westwand weiterführt, der die dortige männliche Figurengruppe einbindet. In einem durchgängigen Ablauf verbindet demnach Holger Bunk seine Figurengruppen, während der Zusammenhang der Farbflächen und der Architekturmalerei von Peter Mell über den Himmel der Decke erfolgt. So gesehen existieren zwei „Raumschichten“, eine vordere, ab den Fenstern entlanggehend, die Holger Bunk zuzuweisen ist, und eine hintere Raumschicht mit der Deckenbrücke, die zu Peter Mell gehört. Innerhalb der Malbereiche gibt es jeweils kleine „Einsprengsel“ des anderen Künstlers: Die Türfigur, das Selbstbildnis und die Deckenbalkenkonsole von Holger Bunk im „Bereich“ von Peter Mell, die Eckmalerei hinter der Frau auf der Kugel, die Sockelpartie der Fensterwand und die östliche Fensterlaibung von Peter Mell im „Bereich“ von Holger Bunk. Es findet sozusagen ein „fairer“ Ausgleich statt, der zeigt, dass beide Künstler in Harmonie miteinander gearbeitet haben und keiner den anderen „ausstechen“ wollte. Das Experiment, zwei unterschiedliche Künstlertemperamente mit einer gemeinsamen Raumausmalung zu beauftragen, kann als geglückt angesehen werden. Es zeigt sich, dass die Ausmalung dieses Raumes, obwohl der erste Eindruck dem entgegensteht, von der Sockelzone über den figürlichen Bereich bis zur Deckenzone in einer durchgehenden, in sich logischen Abfolge, aufgebaut ist.

    Bevor nun eine zusammenfassende Analyse versucht wird, sollen noch einmal die Künstler zu Wort kommen, die sich im Abstand von 3 Jahren nochmals zu ihrer Arbeit äußerten. Holger Bunk schrieb am 07.03.1999 an den Verfasser dieses Beitrags:

    „Die ersten Ideen für das ‚Regensburger Zimmer‘ entstanden beinahe automatisch durch die Übereinkunft von Peter Mell und Holger Bunk, den Charakter und die Nutzung des Raumes bestehen zu lassen und durch die Ausmalung eher zu unterstreichen als zu verändern.

    Die für die Regensburger Altstadt typische Bauweise des Zimmers mit tiefen Fenster- und Türleibungen, sowie einer niedrigen Deckenhöhe sollte benutzt werden. Durch Farbflächen und Bildaufbau der figurativen Teile sollten die realen Dimensionen für das Auge und das Gefühl nicht verloren gehen. Aber gleichzeitig sollte der Raum als Studier- und Wohnkammer eines Kunsthistorikers auch illusionistische Elemente erhalten, die für die Öffnung der Vorstellungskraft, die Phantasie stehen und die auf die Gegenstände kunsthistorischer Tätigkeit des Benutzers des Raumes anspielen.

    In den verschiedenen Malweisen von Bunk und Mell treten Bildebenen und verschiedener Farbgebrauch miteinander in Konkurrenz, wie Gedanken in einem Gespräch, das in einem solchen Raum stattfinden kann. Der Raum ist Ort von Kontemplation und Konzentration, ist aber auch vorstellbar für Gesprächs- und Tafelrunden. Der Kunsthistoriker nimmt seine sinnliche Wahrnehmung, seine Beobachtung zum Anlass, darüber zu denken und zu schreiben. Die selbst gewählte Spannung zwischen Sinneseindruck, Sinnlichkeit, Sinnesgenuss und intellektueller Strenge des Kunsthistorikers wurde Thema des ausgemalten Raumes.

    Die Reaktion auf die bestehenden Dimensionen des Zimmers, das Ausbalancieren von ‚schweren‘ und ‚leichten‘ Flächen, ‚aktiven‘ und ‚zurückhaltenden‘ Farben, von dichtem und transparentem Farbauftrag, von fragmentierten und in sich abgeschlossenen Bildteilen entsprechen dieser Spannung von Sinnen und Intellekt, die das Geschehene zum Ausgangspunkt fürs Denken macht, das Denken zum Maßstab des Gesehenen. In ähnlicher Verschränkung sind die Motive der Raumausmalung aufeinander bezogen und sollen eine Dynamik der Betrachtung in Gang setzen.

    Der Raum als Teil eines Gebäudes, das wiederum Teil eines besonderen Stadtraumes ist, wird durch die perspektivisch und gleichzeitig flächig gemalten Architekturmotive Peter Mells gezeigt. Durch die Malweise und die rote Farbigkeit der gemalten Bauwerke ist ihre Darstellung optisch verbunden mit den konkreten roten und auch den andersfarbigen Malereifeldern an der Wand, die die Flächigkeit betonen und dadurch das Gegengewicht zu den illusionistischen Partien der Malerei bilden.
    Die Figuren der Wandmalerei sind nicht direkt lesbar in ihren Gesten oder ihrer Symbolik, sie handeln jedoch allesamt von der Ambivalenz oder sogar der Gefährdung der Erkennbarkeit und der Erkenntnis (Erkenntnis als Ziel der kunstgeschichtlichen Betrachtungen, aber auch darüber hinaus).

    Die mysteriöse Figur, die sich hinter der Tür am Eingang des Raumes verbirgt und dort erst beim Hinausgehen bemerkt wird, ist in der Farbigkeit reduziert auf ein Schwarz mit rotem Schlagschattten aus einer Lichtquelle, die nicht erkennbar ist. Sie kann in ihrer Passivität als unberechenbar erscheinen. Sie hat keinen Halt in einem perspektivischen Bildraum, außer einer winzigen – nur angedeuteten – Sitzfläche, die die Situation der Figur als völlig künstlich ausweist.

    Für Willkür und ebenfalls Künstlichkeit (einer puren Erfindung) steht die Figurengruppe von zwei in schwarz-weiß gemalten Männerfiguren, die sich gegenseitig etwas anzutun scheinen, ohne das deutlich wird, was es ist und ob es im Ernst geschieht.

    Neben der üppigen Blondine an der gegenüberliegenden Wand liegt – gemalt wie sie – auf einem Stein von Findlingsformat Arno Schmidts Buch ‚belphegor‘, das sich in der Bibliothek des Auftraggebers wie auch des Malers Holger Bunk findet. Es handelt von teilweise vergessenen Geistesgrößen, die ohne Zweifel mit ihren Studien und ihren geistigen Errungenschaften zum wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt beigetragen haben, allerdings ohne ihrer Umgebung den Gefallen zu tun, nach Konventionen zu leben und ihren Drang nach Forschung in irgendeiner Form diesen unterzuordnen. Der Untertitel des Buches ‚oder wie ich euch hasse‘ weist auf das schwierige Verhältnis dieser geistig tätigen Individuen zur Gesellschaft hin, die das neue Wissen nicht gerade immer freudig aufnimmt. Im Kontext der Raumausmalung in Regensburg kann man den Buchtitel auf die parallele Situation des dort intellektuell Tätigen beziehen, der vielleicht die Privilegien eines angenehmen Raumes, einer Bibliothek oder sonstiger Versorgung genießt, aber mit seiner geistigen Produktion nicht auf Verständnis rechnen kann.

    Die ‚Blondine‘ entspricht – demgegenüber eher tröstend – den von Arno Schmidt in anderen seiner Werke immer wieder beschriebenen Frauen, die ihn als erklärten Denker unruhig machten und vor Augen führten, dass bei aller Denkerei, allem Fortschritt durch Intellekt, auch Sinnlichkeit und Körperlichkeit die geistige Dynamik des Menschen mitbestimmen.“

    Am 15.03.99 schrieb Peter Mell folgende Zeilen:

    „Zum Regensburger Zimmer

    Also Holger nahm 3 Tage frei und fuhr nach Amsterdam. Ich nahm 5 Tage frei, weil meine Farbflächen ja schneller gemalt waren als Holgers wahrlich wunderbar altmeisterliche Illusionsmalerei. Er braucht einfach immer länger für alles. Seine Ergebnisse waren natürlich zwangsläufig immer viel schöner als meine, zumindest meint man das anfänglich. Sich ändernde Anschauungsmethoden werden auch das wieder ändern. Als ich unvorbereitet unser Malzimmer betreten hatte, mich umdrehte zur Türwand, saß der Hieb! Sie war blond, drall, zärtlich, geil. Was war 3 Tage lang los gewesen? So eine wundervoll Zerstrobelte hatte er noch nie gemalt, ihm glückten sonst doch meist die großen, knochigen Jungs in kurzen, schwarzen Turnhosen. Eine Welle der Wärme überflutete mich, eifersüchtig: So ein schönes Wochenende hatte er gehabt? Sofort machte ich mich gegenüber der Blonden an meine brennende Stadt, errichtete einen Turm, eindeutig inspiriert von Holgers erigiertem Schwanz und somit zum Gelungensten gehörend, was mir in diesem Zimmer gelang (abgesehen vielleicht vom grauen Rechteck in der Nähe der beiden Jungs mit dem Knüppel, wo ich beim Malen ganz bei mir war).“

    Beide Künstler haben vor Beginn ihrer Arbeit im Kloster Weltenburg das System einer barocken Raumgestaltung eingehend studiert. Sie empfanden dies als notwendig, da für sie erstmals das Problem einer kompletten Raumausmalung zu bewältigen war. Es ist daher von Interesse, ob – außer dem Selbstporträt von Holger Bunk an der Decke – sich weitere Bezüge zu einer barocken Raumkonzeption finden lassen.

    Ganz allgemein ist erst einmal eine Berücksichtigung von Raum und Auftraggeber festzustellen. Auch in der Barockzeit war der architektonisch vorgegebene Raum die „Stimmgabel“ für dessen künstlerische Ausgestaltung und es mussten – oft streng vorgeschriebene – profane oder religiöse Programme bildlich umgesetzt werden.

    Es ist bemerkenswert, dass diese Vorgehensweise von Gegenwartskünstlern Anwendung findet und die mögliche Selbstdarstellung – es wurden vom Auftrag her keinerlei Auflagen gemacht – hintenangestellt wurde. Diese Vorgehensweise ist vielleicht mit ein Grund dafür, das die Malerei dieses Raumes trotz ihrer Vielgestaltigkeit nicht auseinander fällt, dass ein in sich geschlossener und stimmiger Eindruck vorherrscht, der um so deutlicher hervortritt, je länger man sich in diesem Raum aufhält und je intensiver man sich mit dieser Malerei beschäftigt.

    Die Unterschiede zu einer barocken Raumgestaltung sind dennoch mit den Händen zu fassen: Präsentiert sich ein barocker Raum, auch wenn mehrere Künstler an seiner Ausgestaltung beteiligt waren, als ein einheitliches Ganzes, so sind hier die beiden verschiedenen künstlerischen Handschriften sofort ablesbar. Ist die barocke Gestaltung einer formal ablesbaren „großen Ordnung“ unterworfen (einheitliches, durchgehendes Dekorationssystem von der Säulenbasis bis zur Himmelsöffnung), so muss die Struktur dieses modernen Raumes erst einmal „entschlüsselt“ werden, bevor sie sich zu einem Ganzen fügt.

    Auf die Probleme eines Zeitstils oder Individualstils soll in diesem Zusammenhang nicht näher eingegangen werden, aber es zeigt sich deutlich, dass zwar einheitliche Ausgangsüberlegungen bei der Arbeit der beiden Künstler eine Rolle spielten, aber ihre individuelle Handschrift von dominierender Wirkung bei der Ausführung bleibt.

    Als Ergebnis der Zusammenarbeit von Holger Bunk und Peter Mell (Abb. 14) ist ein moderner Raum entstanden, in dem eigene Kunstprobleme reflektiert werden, wie z.B. die heutige Darstellbarkeit der menschlichen Figur oder die Wirkung von Farbstimmungen. Hinzu kommen individuelle Befindlichkeiten der Künstler selbst und ihre jeweiligen Reflektionen über die gegenwärtige Kunstproduktion. Es ist dadurch ein „freier“ Raum entstanden, jenseits von dekorativen Vorstellungen. Dieses Beispiel zeigt, dass auch in denkmalgeschützten Bauten aktuelle künstlerische Gestaltungen möglich sind.


    1. Es handelt sich um den südwestlich gelegenen Wohnraum im 2. OG dieses Gebäudes. Maße ca. 5,30 × 5,10 m, 2,80 m hoch. Das so genannte Altmannsche Haus ist ein bedeutendes, denkmalgeschütztes Patriziergebäude mit Bauteilen seit der Romanik. Von 1512–1612 befand sich hier die Reichsstädtische Münze, direkt neben dem Alten Rathaus gelegen. Literatur zuletzt: Denkmäler in Bayer, Bd. III.37, Stadt Regensburg, Hrsg. Michael Petzet, Regensburg 1997, S. 398.
    2. Ausstellungskatalog „Peter Mell. Übermalte Siebdrucke“, Städtisches Bodensee-Museum Friedrichshafen, 26. Mai – 26. Juni 1988. Text Lutz Tittel, Übermalte Siebdrucke von Peter Mell, S. 7–15. Siehe auch den Ausstellungskatalog „Peter Mell“, Museum Folkwang Essen, 20.11.1987 – 10.1.1988, mit Texten von Hartmut Riederer und Ulrich Krempel.
    3. Ausstellungskatalog „Peter Mell. Geheimnisse der Klarheit“, Galerie Schedle & Arpagaus Zürich und Galerie Bernd Lutze Friedrichshafen, Zürich und Friedrichshafen 1990. Text Lutz Tittel, Farbträume und Farbklänge, S. 9–23.
    4. Katalog Zürich und Friedrichshafen 1990 (Anm. 3), Text auf S. 4:

      „Fußboden, Wände, Decke Fenster, Türen
      gelb, ein völlig sonnengelber Raum.
      Einander gegenüber stehen am Boden zwei
      kelchförmige, aus Kleister und Seiden-
      papier gefertigte Gefäße. Ein rotes, gefüllt
      mit rotem Pigment, ein blaues gefüllt mit
      blauem.
      Die Größe der Gefäße richtet sich nach
      der Größe des Raumes: eher sind sie klein.
      Peter Mell, 13. Nov. 88“

    5. Holger Bunk und Peter Mell. Zusammenarbeit. Bilder und Objekte aus den Jahren 1993 und 1994, Galerie Rainer Wehr, Stuttgart 14.9. – 4.11.1994.
    6. Ausstellungskatalog „Holger Bunk“, Mannheimer Kunstverein 20.4. – 25.5.1986 und Spendhaus Reutlingen 29.6. – 10.8.1986 mit Texten von Friedrich W. Kasten, Anni Bardon und Stephan von Wiese. Ausstellungskatalog „Holger Bunk. Installationen“, Westfälischer Kunstverein Münster 6.7. – 26.8.1990 und Portikus Frankfurt am Main 2.3. – 7.4.1990 mit Texten von Friedrich Meschede und Gregor J. M. Weber. Zuletzt Ausstellungskatalog „Holger Bunk. Das Labor der Bilder“, Ulmer Museum 29.11.1998 – 10.1.1999 mit Texten von Brigitte Reinhardt, Friedrich Meschede und Mariska van den Berg.
    7. Auf die Wände wurde ein grundiertes Baumwollgewebe SG 1 (boesner) geklebt. Rollenmaß 1,50 × 10,0 m.
    8. Über die Arbeit der beiden Künstler hat der Verfasser eine Fotodokumentation angelegt, in welcher die täglichen Arbeitsschritte festgehalten wurden.

    Von Dr. Lutz Titel

    Wandmalerei gilt als eine der ältesten künstlerischen Betätigungen der Menschen (paläolithische Höhlenmalerei). Sie war von jeher mit höheren Ansprüchen als an ein transportables Einzelbild verbunden. Die Malfläche ist ortsfest („monumental“, daher oft auch Wandmalerei = Monumentalmalerei). In der Regel liegt eine öffentliche Zugängigkeit vor und die Größe der Malfläche ermöglicht zyklische Darstellungen. Von daher eignete sich die Wandmalerei bestens zur Darstellung von Macht und Pracht sowie zur politischen und religiösen Beeinflussung der Menschen. Es sei in diesem Zusammenhang nur kurz an die mittelalterlichen Freskenzyklen in Kirchen, Burgen und Rathäusern erinnert, ebenso an die großen Wandmalereien der Renaissance und der Barockzeit, ja selbst noch an die monumentalen Wandmalereien in repräsentativen Gebäuden des 19. Jahrhunderts.

    Im 20. Jahrhundert, besonders nach 1945, scheint diese Kunstgattung (abgesehen von Diktaturen, welche die öffentliche Propagandamalerei an Außen- und Innenwänden weiterhin benutzen, ja sogar bewusst für ihre Zwecke zu erneuern suchten) keine große Bedeutung mehr zu haben. Sie erscheint heute nahezu verschwunden. Die Gründe dafür mögen vielfältig sein. Sicher hat die moderne Kunstentwicklung nach 1900 mit der intellektuellen Ausrichtung auf das Einzelwerk, die totale Freisetzung der Ideen und die Einbeziehung aller Materialien in eine künstlerische Gestaltung genauso viel zum Versiegen dieser alten Kunstform beigetragen wie neue gesellschaftliche Leitbilder, ein neues „Lebensgefühl“. Entscheidend für das Ende der Wandmalerei in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dürften aber neue öffentliche Repräsentationsformen und die Entwicklung der neuen Medien sein. Es ist heute in der Tat anachronistisch, mit großen (öffentlichen oder privaten) Wandmalereien Reichtum und Macht zur Schau stellen zu wollten, oder sie als Bildungs- und Propagandamittel einzusetzen. Dies leisten heute effektiver andere Beeinflussungsformen, wie z.B. das Fernsehen.

    Der Verfasser dieses Beitrags hatte 1995 Peter Mell und Holger Bunk vorgeschlagen, einen Wohnraum im Altmannschen Haus (Neue-Waag-Gasse 2)1 auszumalen. Die Anregung dazu kam von den erhaltenen spätmittelalterlichen Freskenresten in diesem Gebäude, verbunden mit der Absicht, Künstlern heute eine interessante Aufgabe zu stellen. Es ist gewiss nicht einfach, einen dreidimensionalen Raum vollständig auszumalen, wenn die bisherige Tätigkeit überwiegend dem zweidimensionalen Tafelbild galt.

    Mit Peter Mell war der Autor schon seit seiner Bodenseezeit bekannt.2 In einer Züricher Galerie hatte Mell zwar schon einmal einen Raum gestaltet3 ,aber dort wurde die „Bildvorstellung“ der Grundfarben Blau-Rot-Gelb thematisiert, die im vorgegebenen Raum erwirklicht wurde.4 Peter Mell hatte 1993 und 1994 mehrmals mit Holger Bunk zusammengearbeitet. Die Ergebnisse dieser Teamarbeit waren in der Stuttgarter Galerie Rainer Wehr zu sehen.5 Von daher erschien es spannend, wie diese beiden Künstler, die sehr unterschiedlich arbeiten (vereinfacht ausgedrückt: Holger Bunk figürlich und Peter Mell Farbflächen malend), das Problem einer gemeinsamen Raumgestaltung lösen würden, denn auch Holger Bunk hatte sich in seinen Gemälden und Installationen oft mit teilweise komplizierten Raumkonstruktionen befasst.6

    Den Künstlern wurde zunächst ein Raumplan zugeschickt und nach ersten Beratungen erklärten sie sich bereit, die Aufgabe – den Raum vollständig auszumalen – zu übernehmen. Vorgaben wurden keine gemacht, die Künstler hatten bei der Gestaltung völlig freie Hand. Am Anfang wurde vom Auftraggeber vorgeschlagen, die Malerei direkt auf den Wänden und an der Decke anzubringen. Hier kam es aber zu einer ersten, wichtigen Änderung: Die Künstler entschieden sich dafür, nicht direkt auf der Wand zu malen, sondern auf einer vorgrundierten Leinwand7 , die mit einer Mischung aus Tapetenkleister und Caparol-Binder im Verhältnis 1:1 fugenlos (mit anstoßenden, glatt geschnittenen Kanten) auf die Wand geklebt werden sollte. Dadurch umgingen sie sämtliche technische Probleme der Wandmalerei (Wahl der Technik, ob Fresko, Secco, Enkaustik etc.) und es lag ihnen letztlich ein Malgrund vor, auf dem die Acrylmalerei des Ateliers problemlos fortgeführt werden konnte. Und noch ein Weiteres: Durch diese Entscheidung wurde letztlich das Unverrückbare der Wandmalerei (obwohl es heute mittlerweile Techniken zur Lösung und Bergung von ortsfester Wandmalerei gibt) aufgehoben, denn die aufgeklebte Leinwand ist ablösbar und kann wieder in anderen Zusammenhängen gezeigt werden. Vielleicht hat diese Möglichkeit – wenn auch unbewusst – die Ausmalung dieses Raumes mit beeinflusst.

    Die Künstler trafen sich im Juni/Juli 1995 zu einigen Gesprächen (Abb.1) und nach einem regen Austausch (Abb. 2) waren dann die Vorbereitungen soweit gediehen, dass am 18. August 1995 die gemeinsame Arbeit begonnen werden konnte. Holger Bunk hatte eine kleine Skizze (Tinte und Rotstift, Abb. 3) mitgebracht, die erste Überlegungen festhielt: illusionistischer Lattenrost, der abrupt in der Fläche endet und nur Teile der bemalten Wände „einrahmt“. Irrational gehen laubenartige Latten in wachsende Pflanzen über(?).“ Aufschlussreich ist es, dass beide Künstler gemeinsam vor Beginn der Arbeiten Kloster Weltenburg besuchten, um eine barocke Raumgestaltung zu studieren. Das Selbstporträt von Holger Bunk an der Decke (Abb. 4) kann somit auch als eine Hommage an Cosmas Damian Asam und seinen Bruder Egid Quirin Asam (Stuckbildnis des Cosmas Damian Asam, modelliert von Egid Quirin Asam im Kronreif über der Wölbschale) angesehen werden.

    Am ersten Tag der gemeinsamen Arbeit legte Holger Bunk die Umrisse der Figur in der Türlaibung, die Frau auf der Kugel (am Anfang hatte sie noch Blumen in der Hand, Abb. 5) fest, skizzierte den Baum, das Lattengerüst und das Selbstbildnis an der Decke. Peter Mell widmete sich zuerst ganz der Decke. Eine lichtgelbe Deckenscheibe mit zwei Öffnungen und einem Tragbalken, umgeben von blauer Farbe wurde gemalt. Es zeigte sich sofort, dass die Platz- bzw. Raumverteilung zwischen den Künstlern schon vorher weitestgehend abgesprochen war, denn gleich am ersten Tag wurden die figürlichen Akzente gesetzt, die später beibehalten wurden. Peter Mell ging vernünftigerweise noch nicht an die Wände, da erst einmal die Platzierung und Wirkung der Figuren, welche gegenüber den Farbflächen eine stärkere Präsenz haben, abgewartet werden musste.

    Am nächsten Tag umriss Holger Bunk die Vaginaform in der Südwestecke des Raumes, arbeitete an der Türfigur, malte die Kugel voller aus, der jetzt eine kleinere, rote Kugel beigegeben wurde, nahm die Blumen aus der Hand der Frau weg und legte dafür neu ein Buch auf die Kugel. Mit den Grundfarben Blau, Rot und Gelb malte Peter Mell nun die Türlaibung aus, die Deckenplatte wurde akzentuiert, die eine Deckenplattenöffnung wurde als Ausblick in einen nächtlichen Sternenhimmel gestaltet.

    Holger Bunk – »Wohnung von Dr. Lutz Tittel«
    Blick in die ausgemalte Bibliothek der Wohnung von Dr. Lutz Tittel. Die gemeinsame Arbeit mit Peter Mell wurde inzwischen überstrichen.

    Am dritten Tag arbeitete Holger Bunk an der Kugel weiter und widmete sich der Fensterwand, an der nun eine querovale Form auftauchte. Damit wurde direkt das Fenstermotiv der gegenüberliegenden Neuen Waag in den Raum hineingezogen. Die Türfigur wurde fast fertig gestellt, der Baum weiter ausgemalt. Auch Peter Mell reagierte auf die Farbigkeit der Fassade der Neuen Waag, indem er die östliche Fensterlaibung in einem gedeckten, rötlichbraunen Ton ausmalte.

    Hier ist vielleicht der Platz, kurz auf die unterschiedliche Maltechnik der beiden Künstler einzugehen. Beide benutzten Acrylfarben. Holger Bunk „Fertigfarben“ aus der Tube, während Peter Mell Pigmente und Binder mitbrachte und sich seine Farben jeweils neu zusammenmischte. Beide nahmen dann Pappteller (bzw. kleine Plastikschüsseln bei größeren Farbflächen) als „Paletten“, auf denen die jeweils benötigten Farbportionen zusammengestellt wurden. Die Farben aus den Tuben wirkten insgesamt stumpfer, kompakter, deckender, diese Wirkung wurde aber durch die Technik von Holger Bunk, seine Figuren mehrmals zu übergehen, auszudifferenzieren, wieder teilweise aufgehoben, da durch die mehrfachen Farbschichten Plastizität und Tiefe entstanden. Je nach künstlerischer Absicht mischte Peter Mell seine Farben neu, von einem kompakten Grau (eine sehr schöne, gleichmäßige Fläche) bis zu einem samtigen, tiefen Ultramarinblau und einem dünnflüssigen Rot, das eine fast lasierende Malerei wie bei seinem Architekturmotiv ermöglichte.

    Nach dem dritten Tag begann Peter Mell an der Westwand mit dem Architekturmotiv und den Farbfeldern in Grau und Grün. Der phallusartige Turm bildete das Gegenstück zur Vaginaform und dieses „Lebensmotiv“ der ersten Skizze (Abb. 3) hatten nun eine formale Steigerung bei einem gleichzeitig höheren Abstraktionsgrad erfahren. Mit Beginn der Arbeit an der Westwand wurde der Gesamtraum langsam geschlossen. Peter Mell hatte sich zu wenigen, großen Flächen entschlossen, was sicher die richtige Reaktion auf die Intensität der Bunkschen Figuren war. An der Ostwand gegenüber entstanden die verkanteten Farbflächen in Gelb und Ultramarinblau, wobei die dunkelblaue Fläche einen schönen Gegenpol zur massiven, dunkelbraunen Kugel rechts unten an dieser Wand bildete. Holger Bunk legte den Landschaftshintergrund beim Mädchen auf der Kugel an und widmete sich der Fensterwand. Das Querovalmotiv wurde zugunsten von ruhiger wirkenden rechteckigen Flächen eliminiert. Die Fensterlaibung des westlichen Fensters wurde mit einem hellen Grau bemalt, neben der Heizung darunter eine „Grünschlange“ vor dunklem Hintergrund angebracht. Bis auf die linke Hälfte der Westwand war nun die Raumdisposition klar.
    Holger Bunk fuhr für zwei Tage nach Amsterdam und Peter Mell malte in dieser Zeit das gedeckte Rotfeld an der Westwand, den blauen Eimer mit einem „Bewegungsknüppel“ im Architekturmotiv, den Deckenanschluss (Blauflächen) an der Westwand, die Felder über der Bücherwand, änderte die dunkle „Himmelsöffnung“ na der Decke in eine hellblaue Ovalfläche und differenzierte die östliche Fensterlaibung.

    Am 24.08.95 arbeitete Holger Bunk an der Westwand weiter. Die leere Fläche wurde ganz mit interessanten, dekorativen Strichmotiven gefüllt, in welche eine lebensgroße Gruppe von zwei männlichen Figuren gesetzt wurde. Damit waren jetzt alle Flächen im Raum malerisch geschlossen und der Gesamtraum vollkommen strukturiert: Die beiden gegenüberstehenden großen geschlossenen Wandflächen wiesen nun das gleiche System auf, Figuren kombiniert mit großen Farbflächen. Das Motiv der männlichen Gruppe war in seiner ersten Fassung bedrohlich und eindeutig. Der hinten stehende Mann fesselte dem vor ihm Knienden die Hände auf den Rücken (Abb. 6). Nur über diese Gruppe gab es ein Gespräch der Nutzer des Raumes mit Holger Bunk in welchem sie ihn baten, das Bedrohliche – wenn möglich – etwas abzumildern. Am nächsten Tag wurde diese Gruppe geändert (Abb. 7). Nun legt der kniende seine Hände vorn auf die Oberschenkel und ein frei schwebender Knüppel erscheint zwischen den beiden Männern. Ebenfalls neu tauchte ein kahles Geäst auf. Peter Mell beschäftigte sich inzwischen weiter mit der Decke. Das Blau wurde ganzflächig übergangen und aufgehellt. An der Ostwand kam es zu einem „Eingriff“ in den Landschaftshintergrund. Verschiedene Kreise, ein Gewölk, gemalte Farbnasen lockerten nun das strenge Weiß/Grau auf.

    In den nächsten Tagen beschäftigte sich Holger Bunk weiter mit der Westwand, blaue Formen wurden übe die schraffierte Fläche gezogen, der Baum an der Fensterwand erhielt mehr Blätter, das Selbstbildnis an der Decke wurde weiter überarbeitet. Peter Mell arbeitete an der Deckenscheibe, die noch „leichter“ gemacht wurde. Der perspektivische Rand verschwand, die eine Öffnung wurde vergittert und mit einem Gitterschatten versehen, die andere Öffnung durch eine braune Ovalfläche geschlossen. Nach einem Lattengerüst über der Eingangstür war für Peter Mell die Arbeit im Wesentlichen abgeschlossen, während Holger Bunk noch einige Tage an seinen Figuren und der Kugel malte. Kleine graue Autos wurden in der Landschaft platziert – ein Hinweis auf seine ersten Erfolge als Maler – ebenso ein kleines graues Gefäß mit einem Knüppelchen (Abb. 8), eine witzige, ironische Replik auf das blaue Gefäß mit Knüppel von Peter Mell. Der Deckenbalken erhielt eine gemalte Konsole, Verbindungskringel zwischen Ästen und Lattengerüst entstanden. Mit der Signatur an der Westwand unten (Abb. 9) und dem Anschrauben der grau gestrichenen Scheuerleisten war die Arbeit am 02.09.95 beendet. Den Schlusspunkt setzte dann am 08.09.95 Peter Mell, in dem er auf dem vorbereiteten Bolusgrund in der Laibung des östlichen Fensters eine Vergoldung anbrachte (Abb. 10-13).

    Nach Abschluss der Arbeiten schrieb Holger Bunk nachfolgenden Text in die Fotodokumentation8 über diesen Raum:

    Regensburger Zimmer

    Der Charakter des Raumes, die Tiefe der Tür- und Fensterlaibungen waren auch ohne Bemalung schon etwas Besonderes. Die Qualität des Raumes, die Dicke der Mauern (Festigkeit und Klima) sollten nicht durch Illusionen des Bildraumes überlagert werden. Die Farbigkeit durfte nicht Licht und Leichtigkeit wegnehmen. Trotzdem sind in der hellen Stimmung der Farben sehr dunkle Gewichte entstanden (= Massivität). Bildraum wie in der Landschaft hinter der Frauenfigur sollte die Flächigkeit der Wand nicht auflösen und ist deshalb wie in einer (schwarzweißen) Fotokollage zwischen farbige Partien eingesetzt. Das Gitter der laubenartigen Linien betont die Formen des Gebauten: Fenster, Decke und Wand, Raumecken, die Bäume machen ähnliche Linien. Schraffuren und transparente Farbschichten reagieren anders aufs Licht als dichte Flächen, damit der Raum nicht zugestrichen und von Farbfeldern zugebaut, von Bildgegenständen vollgestellt oder von Linien umklammert erscheint.

    H.(olger) B.(unk) 1.9.95 City of Rainsburgh

    Es erscheint erst einmal sinnvoll zu sein, auf die Gesamtstruktur dieses voll ausgemalten Raumes einzugehen, denn überwältigt von seiner Vielfarbigkeit mit den starken Einzelakzenten erschließt sie sich einem unbefangenen Betrachter nicht sofort Eine zentralperspektivische, einem einheitlichen System folgende Anordnung der einzelnen Teile der Ausmalung ist nicht festzustellen. Dennoch gibt es „Raumöffnungen“ (abgesehen von der Tür und den Fenstern), wie bei der Vaginaform, der Architekturmalerei und dem landschaftlichen Hintergrund hinter der Frauenfigur. Sehr geschickt ist die Architekturmalerei platziert, welche in gleicher Höhe der Türöffnung und der gegenüberliegenden Wand durch perspektivische Andeutungen diese Wand aufbricht und so beim Eintritt in den Raum kein beengtes Gefühl aufkommen lässt. Diese wenigen gemalten „Öffnungen“ stellen aber den geschlossenen Charakter der Wände nicht in Frage. Anders die Decke. Das helle Blau um die gelbe Deckenscheibe suggeriert eine Himmelsstruktur, eine Öffnung nach oben. Dieses Blau wird teilweise in die Wände hineingezogen und der Raum wirkt dadurch, trotz seiner starken, teils dunklen und schweren Flächen an den Wänden, nicht beengt. Die Massivität der raumumschließenden Mauern bleibt spürbar, die Malerei erdrückt nicht den Raum. Das ist ein erstaunliches Phänomen. Eine raffinierte Lichtinszenierung, ein weiteres Mittel zur Erzeugung tiefenräumlicher Wirkung, ist mehrfach anzutreffen. Sie tritt nicht den ganzen Raum organisierend auf, sondern eher lokal, an die jeweilige Darstellung gebunden. So bei der Frau inklusive Kugel mit Buch und Landschaftsdarstellung, wo das Licht von der Fensterseite hereinfallend angedeutet ist. Ebenso, aber noch mehr zurückgenommen, bei der Männergruppe gegenüber, während die Türfigur ein geheimnisvolles Licht von rechts, außerhalb des Raumes erhält. Schließlich wirft das Gitter bei der ovalen Deckenöffnung noch kleine Schlagschatten, die auf eine Lichtquelle von oberhalb der Deckenplatte verweisen. Der Deckenbalken wiederum hat eine verschattete, dunklere Seite, wobei die Lichtquelle hierfür nicht eindeutig auszumachen ist.

    Eine besondere Rolle bei der Lichtinszenierung nimmt selbstverständlich die Fensterfront des Raumes ein Es ist dabei aufschlussreich zu sehen, wie die dunkleren Farben der östlichen Fensterlaibung (Peter Mell) diese kleiner erscheinen lassen, und die helleren Farben beim gleichgroßen westlichen Fenster (Holger Bunk) diese optisch vergrößern. Und noch eine weitere, folgenreiche Gestaltung weisen die Fensterlaibungen auf: Beim östlichen Fenster ist die der aufgehenden Sonne gegenüberliegende Seite unten gelb angemalt, beim westlichen Fenster die der untergehenden Sonne gegenüberliegende Seite unten vergoldet. Diese Flächen reflektieren das Sonnenlicht und werfen je nach Sonnenstand ein geheimnisvolles Licht auf die gemalten Wände. Durch diesen „Lichttrick“ der Künstler ergibt sich eine Lebendigkeit und ständig wechselnde Erlebbarkeit des Raumes!

    Kompositionell ist die Malerei des Raumes vollkommen durchstrukturiert. An der Fensterwand ist bis in die Fensterbankhöhe eine Sockelzone gegeben, die noch einmal mit der Farbigkeit der Fassade der aus den Fenstern zu sehenden gegenüberliegenden Neuen Waag korrespondiert. Diese „Sockelzone“ wird indirekt an der Ost- und Westwand fortgeführt, in dem sich im unteren Bereich dieser Wände große Flächen befinden. Die Figuren (bis auf die Türfigur, die aber in Höhe der Sockelzonen mit einem tieferen Blau einen abgestuften Hintergrund aufweist) befinden sich über dieser Zone. Das hat einen praktischen Grund, denn durch eine Möblierung des Raumes (momentan ein großer Tisch mit Bestuhlung in der Raummitte) werden die unteren Wandpartien teils verdeckt oder überschnitten. Durch die gewählte Anordnung bleiben die „Hauptattraktionen“ voll sichtbar, auch bei wechselnden Möblierungen.

    Die Anfangsidee des illusionistischen Lattenrostes (Abb. 3) ist modifiziert beibehalten worden. Es liegt nun eine durchgängige Struktur vor, welche die figürlichen Teile der Ost- und Westwand verbindet: Von der Kugel, auf welcher die Frau sitzt, steigen Latten auf, die über das Lattengerüst an der Decke die Verbindung zum Baum der Fensterfront geben. Ein Seitenast des Baumes berührt das von einer Astgabel getragene Lattengerüst, von dem wiederum die Vaginaform über eine Latte die Linie zum kahlen Baum der Westwand weiterführt, der die dortige männliche Figurengruppe einbindet. In einem durchgängigen Ablauf verbindet demnach Holger Bunk seine Figurengruppen, während der Zusammenhang der Farbflächen und der Architekturmalerei von Peter Mell über den Himmel der Decke erfolgt. So gesehen existieren zwei „Raumschichten“, eine vordere, ab den Fenstern entlanggehend, die Holger Bunk zuzuweisen ist, und eine hintere Raumschicht mit der Deckenbrücke, die zu Peter Mell gehört. Innerhalb der Malbereiche gibt es jeweils kleine „Einsprengsel“ des anderen Künstlers: Die Türfigur, das Selbstbildnis und die Deckenbalkenkonsole von Holger Bunk im „Bereich“ von Peter Mell, die Eckmalerei hinter der Frau auf der Kugel, die Sockelpartie der Fensterwand und die östliche Fensterlaibung von Peter Mell im „Bereich“ von Holger Bunk. Es findet sozusagen ein „fairer“ Ausgleich statt, der zeigt, dass beide Künstler in Harmonie miteinander gearbeitet haben und keiner den anderen „ausstechen“ wollte. Das Experiment, zwei unterschiedliche Künstlertemperamente mit einer gemeinsamen Raumausmalung zu beauftragen, kann als geglückt angesehen werden. Es zeigt sich, dass die Ausmalung dieses Raumes, obwohl der erste Eindruck dem entgegensteht, von der Sockelzone über den figürlichen Bereich bis zur Deckenzone in einer durchgehenden, in sich logischen Abfolge, aufgebaut ist.

    Bevor nun eine zusammenfassende Analyse versucht wird, sollen noch einmal die Künstler zu Wort kommen, die sich im Abstand von 3 Jahren nochmals zu ihrer Arbeit äußerten. Holger Bunk schrieb am 07.03.1999 an den Verfasser dieses Beitrags:

    „Die ersten Ideen für das ‚Regensburger Zimmer‘ entstanden beinahe automatisch durch die Übereinkunft von Peter Mell und Holger Bunk, den Charakter und die Nutzung des Raumes bestehen zu lassen und durch die Ausmalung eher zu unterstreichen als zu verändern.

    Die für die Regensburger Altstadt typische Bauweise des Zimmers mit tiefen Fenster- und Türleibungen, sowie einer niedrigen Deckenhöhe sollte benutzt werden. Durch Farbflächen und Bildaufbau der figurativen Teile sollten die realen Dimensionen für das Auge und das Gefühl nicht verloren gehen. Aber gleichzeitig sollte der Raum als Studier- und Wohnkammer eines Kunsthistorikers auch illusionistische Elemente erhalten, die für die Öffnung der Vorstellungskraft, die Phantasie stehen und die auf die Gegenstände kunsthistorischer Tätigkeit des Benutzers des Raumes anspielen.

    In den verschiedenen Malweisen von Bunk und Mell treten Bildebenen und verschiedener Farbgebrauch miteinander in Konkurrenz, wie Gedanken in einem Gespräch, das in einem solchen Raum stattfinden kann. Der Raum ist Ort von Kontemplation und Konzentration, ist aber auch vorstellbar für Gesprächs- und Tafelrunden. Der Kunsthistoriker nimmt seine sinnliche Wahrnehmung, seine Beobachtung zum Anlass, darüber zu denken und zu schreiben. Die selbst gewählte Spannung zwischen Sinneseindruck, Sinnlichkeit, Sinnesgenuss und intellektueller Strenge des Kunsthistorikers wurde Thema des ausgemalten Raumes.

    Die Reaktion auf die bestehenden Dimensionen des Zimmers, das Ausbalancieren von ‚schweren‘ und ‚leichten‘ Flächen, ‚aktiven‘ und ‚zurückhaltenden‘ Farben, von dichtem und transparentem Farbauftrag, von fragmentierten und in sich abgeschlossenen Bildteilen entsprechen dieser Spannung von Sinnen und Intellekt, die das Geschehene zum Ausgangspunkt fürs Denken macht, das Denken zum Maßstab des Gesehenen. In ähnlicher Verschränkung sind die Motive der Raumausmalung aufeinander bezogen und sollen eine Dynamik der Betrachtung in Gang setzen.

    Der Raum als Teil eines Gebäudes, das wiederum Teil eines besonderen Stadtraumes ist, wird durch die perspektivisch und gleichzeitig flächig gemalten Architekturmotive Peter Mells gezeigt. Durch die Malweise und die rote Farbigkeit der gemalten Bauwerke ist ihre Darstellung optisch verbunden mit den konkreten roten und auch den andersfarbigen Malereifeldern an der Wand, die die Flächigkeit betonen und dadurch das Gegengewicht zu den illusionistischen Partien der Malerei bilden.
    Die Figuren der Wandmalerei sind nicht direkt lesbar in ihren Gesten oder ihrer Symbolik, sie handeln jedoch allesamt von der Ambivalenz oder sogar der Gefährdung der Erkennbarkeit und der Erkenntnis (Erkenntnis als Ziel der kunstgeschichtlichen Betrachtungen, aber auch darüber hinaus).

    Die mysteriöse Figur, die sich hinter der Tür am Eingang des Raumes verbirgt und dort erst beim Hinausgehen bemerkt wird, ist in der Farbigkeit reduziert auf ein Schwarz mit rotem Schlagschattten aus einer Lichtquelle, die nicht erkennbar ist. Sie kann in ihrer Passivität als unberechenbar erscheinen. Sie hat keinen Halt in einem perspektivischen Bildraum, außer einer winzigen – nur angedeuteten – Sitzfläche, die die Situation der Figur als völlig künstlich ausweist.

    Für Willkür und ebenfalls Künstlichkeit (einer puren Erfindung) steht die Figurengruppe von zwei in schwarz-weiß gemalten Männerfiguren, die sich gegenseitig etwas anzutun scheinen, ohne das deutlich wird, was es ist und ob es im Ernst geschieht.

    Neben der üppigen Blondine an der gegenüberliegenden Wand liegt – gemalt wie sie – auf einem Stein von Findlingsformat Arno Schmidts Buch ‚belphegor‘, das sich in der Bibliothek des Auftraggebers wie auch des Malers Holger Bunk findet. Es handelt von teilweise vergessenen Geistesgrößen, die ohne Zweifel mit ihren Studien und ihren geistigen Errungenschaften zum wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt beigetragen haben, allerdings ohne ihrer Umgebung den Gefallen zu tun, nach Konventionen zu leben und ihren Drang nach Forschung in irgendeiner Form diesen unterzuordnen. Der Untertitel des Buches ‚oder wie ich euch hasse‘ weist auf das schwierige Verhältnis dieser geistig tätigen Individuen zur Gesellschaft hin, die das neue Wissen nicht gerade immer freudig aufnimmt. Im Kontext der Raumausmalung in Regensburg kann man den Buchtitel auf die parallele Situation des dort intellektuell Tätigen beziehen, der vielleicht die Privilegien eines angenehmen Raumes, einer Bibliothek oder sonstiger Versorgung genießt, aber mit seiner geistigen Produktion nicht auf Verständnis rechnen kann.

    Die ‚Blondine‘ entspricht – demgegenüber eher tröstend – den von Arno Schmidt in anderen seiner Werke immer wieder beschriebenen Frauen, die ihn als erklärten Denker unruhig machten und vor Augen führten, dass bei aller Denkerei, allem Fortschritt durch Intellekt, auch Sinnlichkeit und Körperlichkeit die geistige Dynamik des Menschen mitbestimmen.“

    Am 15.03.99 schrieb Peter Mell folgende Zeilen:

    „Zum Regensburger Zimmer

    Also Holger nahm 3 Tage frei und fuhr nach Amsterdam. Ich nahm 5 Tage frei, weil meine Farbflächen ja schneller gemalt waren als Holgers wahrlich wunderbar altmeisterliche Illusionsmalerei. Er braucht einfach immer länger für alles. Seine Ergebnisse waren natürlich zwangsläufig immer viel schöner als meine, zumindest meint man das anfänglich. Sich ändernde Anschauungsmethoden werden auch das wieder ändern. Als ich unvorbereitet unser Malzimmer betreten hatte, mich umdrehte zur Türwand, saß der Hieb! Sie war blond, drall, zärtlich, geil. Was war 3 Tage lang los gewesen? So eine wundervoll Zerstrobelte hatte er noch nie gemalt, ihm glückten sonst doch meist die großen, knochigen Jungs in kurzen, schwarzen Turnhosen. Eine Welle der Wärme überflutete mich, eifersüchtig: So ein schönes Wochenende hatte er gehabt? Sofort machte ich mich gegenüber der Blonden an meine brennende Stadt, errichtete einen Turm, eindeutig inspiriert von Holgers erigiertem Schwanz und somit zum Gelungensten gehörend, was mir in diesem Zimmer gelang (abgesehen vielleicht vom grauen Rechteck in der Nähe der beiden Jungs mit dem Knüppel, wo ich beim Malen ganz bei mir war).“

    Beide Künstler haben vor Beginn ihrer Arbeit im Kloster Weltenburg das System einer barocken Raumgestaltung eingehend studiert. Sie empfanden dies als notwendig, da für sie erstmals das Problem einer kompletten Raumausmalung zu bewältigen war. Es ist daher von Interesse, ob – außer dem Selbstporträt von Holger Bunk an der Decke – sich weitere Bezüge zu einer barocken Raumkonzeption finden lassen.

    Ganz allgemein ist erst einmal eine Berücksichtigung von Raum und Auftraggeber festzustellen. Auch in der Barockzeit war der architektonisch vorgegebene Raum die „Stimmgabel“ für dessen künstlerische Ausgestaltung und es mussten – oft streng vorgeschriebene – profane oder religiöse Programme bildlich umgesetzt werden.

    Es ist bemerkenswert, dass diese Vorgehensweise von Gegenwartskünstlern Anwendung findet und die mögliche Selbstdarstellung – es wurden vom Auftrag her keinerlei Auflagen gemacht – hintenangestellt wurde. Diese Vorgehensweise ist vielleicht mit ein Grund dafür, das die Malerei dieses Raumes trotz ihrer Vielgestaltigkeit nicht auseinander fällt, dass ein in sich geschlossener und stimmiger Eindruck vorherrscht, der um so deutlicher hervortritt, je länger man sich in diesem Raum aufhält und je intensiver man sich mit dieser Malerei beschäftigt.

    Die Unterschiede zu einer barocken Raumgestaltung sind dennoch mit den Händen zu fassen: Präsentiert sich ein barocker Raum, auch wenn mehrere Künstler an seiner Ausgestaltung beteiligt waren, als ein einheitliches Ganzes, so sind hier die beiden verschiedenen künstlerischen Handschriften sofort ablesbar. Ist die barocke Gestaltung einer formal ablesbaren „großen Ordnung“ unterworfen (einheitliches, durchgehendes Dekorationssystem von der Säulenbasis bis zur Himmelsöffnung), so muss die Struktur dieses modernen Raumes erst einmal „entschlüsselt“ werden, bevor sie sich zu einem Ganzen fügt.

    Auf die Probleme eines Zeitstils oder Individualstils soll in diesem Zusammenhang nicht näher eingegangen werden, aber es zeigt sich deutlich, dass zwar einheitliche Ausgangsüberlegungen bei der Arbeit der beiden Künstler eine Rolle spielten, aber ihre individuelle Handschrift von dominierender Wirkung bei der Ausführung bleibt.

    Als Ergebnis der Zusammenarbeit von Holger Bunk und Peter Mell (Abb. 14) ist ein moderner Raum entstanden, in dem eigene Kunstprobleme reflektiert werden, wie z.B. die heutige Darstellbarkeit der menschlichen Figur oder die Wirkung von Farbstimmungen. Hinzu kommen individuelle Befindlichkeiten der Künstler selbst und ihre jeweiligen Reflektionen über die gegenwärtige Kunstproduktion. Es ist dadurch ein „freier“ Raum entstanden, jenseits von dekorativen Vorstellungen. Dieses Beispiel zeigt, dass auch in denkmalgeschützten Bauten aktuelle künstlerische Gestaltungen möglich sind.


    1. Es handelt sich um den südwestlich gelegenen Wohnraum im 2. OG dieses Gebäudes. Maße ca. 5,30 × 5,10 m, 2,80 m hoch. Das so genannte Altmannsche Haus ist ein bedeutendes, denkmalgeschütztes Patriziergebäude mit Bauteilen seit der Romanik. Von 1512–1612 befand sich hier die Reichsstädtische Münze, direkt neben dem Alten Rathaus gelegen. Literatur zuletzt: Denkmäler in Bayer, Bd. III.37, Stadt Regensburg, Hrsg. Michael Petzet, Regensburg 1997, S. 398.
    2. Ausstellungskatalog „Peter Mell. Übermalte Siebdrucke“, Städtisches Bodensee-Museum Friedrichshafen, 26. Mai – 26. Juni 1988. Text Lutz Tittel, Übermalte Siebdrucke von Peter Mell, S. 7–15. Siehe auch den Ausstellungskatalog „Peter Mell“, Museum Folkwang Essen, 20.11.1987 – 10.1.1988, mit Texten von Hartmut Riederer und Ulrich Krempel.
    3. Ausstellungskatalog „Peter Mell. Geheimnisse der Klarheit“, Galerie Schedle & Arpagaus Zürich und Galerie Bernd Lutze Friedrichshafen, Zürich und Friedrichshafen 1990. Text Lutz Tittel, Farbträume und Farbklänge, S. 9–23.
    4. Katalog Zürich und Friedrichshafen 1990 (Anm. 3), Text auf S. 4:

      „Fußboden, Wände, Decke Fenster, Türen
      gelb, ein völlig sonnengelber Raum.
      Einander gegenüber stehen am Boden zwei
      kelchförmige, aus Kleister und Seiden-
      papier gefertigte Gefäße. Ein rotes, gefüllt
      mit rotem Pigment, ein blaues gefüllt mit
      blauem.
      Die Größe der Gefäße richtet sich nach
      der Größe des Raumes: eher sind sie klein.
      Peter Mell, 13. Nov. 88“

    5. Holger Bunk und Peter Mell. Zusammenarbeit. Bilder und Objekte aus den Jahren 1993 und 1994, Galerie Rainer Wehr, Stuttgart 14.9. – 4.11.1994.
    6. Ausstellungskatalog „Holger Bunk“, Mannheimer Kunstverein 20.4. – 25.5.1986 und Spendhaus Reutlingen 29.6. – 10.8.1986 mit Texten von Friedrich W. Kasten, Anni Bardon und Stephan von Wiese. Ausstellungskatalog „Holger Bunk. Installationen“, Westfälischer Kunstverein Münster 6.7. – 26.8.1990 und Portikus Frankfurt am Main 2.3. – 7.4.1990 mit Texten von Friedrich Meschede und Gregor J. M. Weber. Zuletzt Ausstellungskatalog „Holger Bunk. Das Labor der Bilder“, Ulmer Museum 29.11.1998 – 10.1.1999 mit Texten von Brigitte Reinhardt, Friedrich Meschede und Mariska van den Berg.
    7. Auf die Wände wurde ein grundiertes Baumwollgewebe SG 1 (boesner) geklebt. Rollenmaß 1,50 × 10,0 m.
    8. Über die Arbeit der beiden Künstler hat der Verfasser eine Fotodokumentation angelegt, in welcher die täglichen Arbeitsschritte festgehalten wurden.