Von Holger Bunk

Forschungsbericht Wintersemester 2012/13
Tagebuch

    Vorbemerkung

    Dieser „Forschungsbericht“ gibt die Ereignisse eines guten halben Jahres wieder, insofern sie über die individuelle künstlerische Arbeit hinaus exemplarisch über den Atelierbetrieb eines Malers Auskunft geben können (mit anderen Worten: allzu Privates wurde weggelassen). Außenstehende, aber auch Studierende der künstlerischen Fächer können sich die Alltäglichkeit des Arbeitens nicht oder nicht gut vorstellen, weil sie von den Mythen und der image-mäßig gefärbten Version der Vorgänge der Kunstproduktion überstrahlt werden. In vielen Gesprächen mit Studierenden ist zu bemerken, dass als künstlerische Arbeit das eigentliche „Werk“ angesehen wird, weil es veröffentlicht wird, während die Recherche, die Herstellung von Kontexten, die organisatorische Arbeit mit ihren (gelegentlich zermürbend banalen Inhalten und Wiederholungen) übersehen wird. Was aber der tatsächliche Arbeitsanfall ist, was viel Zeit verbraucht, wo die inspirierenden neuen Informationen her kommen und wen man dafür braucht, wird vielleicht in der Aufzeichnung der hier protokollierten Tagesereignisse und in den dazu gemachten Fotos spürbar. Letztere sind ein Teil des „visuellen Tagebuches“, das ansonsten nicht für ein Publikum bestimmt, ständig anwächst und zusammen mit Zeitschriftenfotos und anderen aus dem Alltag gegriffenen Bild-Fundstücken Quelle von Bild-Ideen wird.

     

    Holger Bunk »Holger Bunk – Forschungsbericht 2012–2013« (2012)
    Forschungsbericht Holger Bunk 2012–13, Cover (Digitaldruck)

    Ziemlich abrupt und untypisch beginnen die Aufzeichnungen in Reykjavik, wo ich zum ersten Mal war; eingeladen zu einer Museumsausstellung, deren Termine vorgegeben waren, sodass ich nach nur kurzer Vorbereitungszeit Hals über Kopf ins Flugzeug stieg und mich dort zurecht finden musste:

    20.7.12
    In Helgi Thorgils Fridjonssons Atelier am Rand der Innenstadt von Reykjavik. Ein Privileg diese Menge von Bildern zu sehen. Hier müsste ich jetzt einen Aufsatz über seine Bilder schreiben. Der müsste seine Farben, den kultivierten differenzierten Strich in Beziehung zu seinen komplexen Motiven setzen. Das wird ein Buch, wenn man es gründlich machen will. Aber ich begreife intuitiv, dass Helgi eine große Bedeutung für mich bekommt, je mehr ich von ihm sehe. Sehr klug aufgebaute Bildräume mit dieser unter einer Naivität versteckten wunderbaren Beobachtungsgabe.

    21.7.12
    Helgi Thorgils Fridjonsson holt mich ab und will mir das Tal von Thingvellir, die älteste Thingstätte und damit den ältesten Ort eines Parlamentes zeigen. Auf dem Weg dahin kommen wir beim Pferdezüchter und Kunstsammler Gunnar Dungal vorbei, der zwar nicht zu Hause ist, aber seine Frau lässt uns herein und wir können das weitläufige Haus sehen, das voller guter Kunstwerke hängt. Besonders gute Ölbilder hat der Sammler von Odd Nerdrum, der eine phantastische Technik in der Ölmalerei besitzt. Die Themen der Bilder sind Selbstinszenierungen des Künstlers, altmeisterliche gemalte verrückte Szenen, die den Vorwand für Selbstporträts bieten. (Odd Nerdrum ist von Geburt Norweger, nahm die Isländische Nationalität an, als er hier lange lebte und scheint jetzt wieder in Norwegen zu sein.) Tolle leuchtende Farben und dicke Krusten heben sich von brauner toniger Malerei ab. Die Selbstporträts, die ich später im Katalog sehe haben was Unangenehmes und zwar nicht lediglich Schräges: Es geht in Richtung Dachschaden. Trotzdem bewundernswerte Maltechnik.
    Die Gattin des Sammlers ist Bildhauerin, wir dürfen ihr neu gebautes, aber überfülltes Atelier sehen in dem jede Menge von Arbeiten aus verschiedensten Materialien und Fundstücken stehen. Sie schenkt mir 2 Kataloge, aus denen ich sehen kann, dass sie mit Jessica Stockholder ausgestellt hat (in der Sammlung des Ehepaares Dungal hängt eine ungewöhnlich malerisch-bildhafte Arbeit von ihr.

    Auf dem Weg nach Thingvellir sehen wir die Leitungen, durch die die natürliche Fernwärme nach Reykjavik geleitet wird. In der Felsspalte von Thingvellir war an einem Wasserfall ein Ölbild von Helgi wochenlang im Freien installiert, als letztes Jahr anlässlich des 1000-jährigen Jubiläums der Christianisierung Islands dort eine Reihe von isländischen zeitgenössischen Künstlern ausgestellt waren.

    22.7.12
    Wir fahren auf dem Weg zum Präsidentenhaus am Gedarsafu-Kopavogur Art Museum vorbei. Dort wird Helgi demnächst eine Ausstellung machen. Augenblicklich sind dort Gerthur Helgadottir mit Metallskulturen von 1950–1970 ausgestellt. Sie lebte in Island und Paris. Ihre Arbeiten sind kombiniert mit Skulpturen in farbigem Papiermaché von Svava Björnsdottir (ca. 1952 geboren). Anschließend nach Hafnaborg ins Hafnafjördur Art Museum, das aus seiner Sammlung Arbeiten von Eirikur Smith (abstrakter Expressionismus, Malerei) zeigt und eine Foto-Ausstellung von Hreinn Fridfinnsson, die drei seiner Arbeiten zeigt: Häuser, deren Innendekoration nach außen gedreht ist, die im Krater eines großen Meteoriteneinschlags stehen.
    Die Architektur in Reykjavik ist kleinteilig. Kommt natürlich von der Kargheit der alten Fischer- und Bauernhäuser her, Paläste und Burgen existieren nicht als Bezugsgröße. Wie in Holland sieht man den Gebäuden die Handwerklichkeit an: die selben Zimmerleute, die Dachkonstruktionen machten bauten auch Boote. In den neueren Gebäuden sieht man farbig lackierte Metallplatten als Dach und Wandverkleidung auch an Wohngebäuden. Viel Metall wie im Schiffsbau. Die etwas älteren Wohngebäude und Geschäfte sind oft aus Beton.
    Wir sehen das Museum of Living Art mit umfangreicher Sammlung von Dieter Roth. Um diese nachgelassenen Arbeiten herum entstand ein mehr als 30-jähriger Ausstellungsbetrieb. Augenblicklich eine Ausstellung mit 3 jungen Künstlern (Plattenteller in der Ecke für die anstehende Party). Einer von den Dreien ist ein Österreicher, der im Austausch hier ist und eigentlich Schüler von Daniel Richter in Wien ist. Er wusste, dass es eine Austauschstudentin aus Stuttgart in seiner Klasse gab, konnte sich aber nicht an den Namen erinnern. Nebenan ist die Gallery Listamenn mit Arbeiten von Erro (aus der Serie Japanischer Liebesbriefe), Gudmundur Gudmundsson, Dieter Roth und Helgi Thorgils Fridjonsson. Beim Abendessen zeigt mir Helgi einen Katalog von Stephen McKenna. Von ihm habe ich bisher noch nicht genug gesehen, obwohl er so interessant ist.

    23.7.12
    Eigentlich war der Plan, die Kunstmuseen Reykjaviks zu besuchen. Es passierte aber so viel, dass ich nur das Hafnarhús schaffte. Dort war die Ausstellung www.Independentpeople.is zu sehen. Ehrlich gesagt hat mich Vieles wegen der lieblosen Installation nicht interessiert. Einige Arbeiten schienen mir veraltet und nicht auf dem Stand der Dinge (wenn man z. B. die Arbeiten von Bernhard Kahrmann von 1999 kennt). Außerdem gab es Arbeiten die ähnlich wie das Werk von Georg Winter mit Phänomenen des Nicht-Vorhandenen und von unscheinbaren Objekten ausgelösten Vorstellungen spielen. Eine Arbeit in der es den Hinweis auf www.restkunst.net gab, machte sich über „Anatomie für Künstler“ und Aktzeichen-Bücher sowie Hans Holbein-Zeichnungen lustig. Ich kam auf die Idee einer Motivsammlung zum Thema: „Künstler und Kritiker machen sich über Aktzeichnen lustig, um up to date zu erscheinen“. Eine Wohnung aus gestrickten Wänden und Einrichtungsgegenständen war hing in einem leeren Saal – leider eine Bastelarbeit.
    Viel interessanter war eine Ausstellung ausgewählter Zeichnungen von Erro. Aufschlussreich war der Beginn bei einem noch laienhaften Pointillismus 1944, skandinavisch anmutenden Stoffmustern von 1949–51, Aktstudien aus Oslo 1952–54, Zeichnungen nach Ravenna-Mosaiken (Bildzerlegung!) mit der Tendenz zum Holländer Escher, Skelettfiguren-gewimmel in Blättern der 50er Jahre aus Florenz, von denen es über geometrisch angeordnete Figuren bis zu den Wimmelbildern der Gegenwart geht.
    Danach wollte ich eigentlich die beiden anderen Gebäude des Museums besuchen, aber ich bekam einen Anruf, dass die Mitarbeiterin des ASÌ Museums bereit ist, mich trotz ihrer Ferien in die Räume zu lassen, damit ich schon mal einen Blick in die Räume werfen kann, in denen die gemeinsame Ausstellung von Lars Ravn (Kopenhagen), Helgi Thorgils Fridjonsson (Reykjavik) und mir stattfinden soll. Auf dem Weg hatte ich noch Zeit für einen Blick in die imposante Halgrimskírkja (die größte Islands), am höchsten Punkt der Stadt gebaut vom Architekten Gudjón Samuelsson. Die Kirche ist erst 1986 fertig gestellt worden.
    Das ASÍ-Museum befindet sich in einem Gebäude, das der Künstler Ásmundur Sveinsson für sich und den kleineren Raum für seine erste Frau baute. Dort bekam ich schnell einen Eindruck, wie wir die Ausstellung installieren sollten. Ich muss das nur noch mit den beiden anderen absprechen … Ásmundur Sveinsson heiratete ein zweites Mal und so entstand nach seiner Scheidung ein weiteres Gebäude, in dem nun sein Nachlass als Besitz des Reykjaviker Art Museums zu sehen ist. Dort hätte ich eigentlich noch hin gehen wollen, aber erneut kam ein Anruf, und Helgi Thorgil Fridjopnssons Frau Magga teilte mir mit, dass ich zu einer Eröffnung in einer Privatwohnung abgeholt werde, auf der ich viele Künstler treffen solle. Es handelte sich um die Wohnung eines isländischen Kunstkritikers und Theoretikers, der teilweise in Helsinki lebt. Ausgestellt waren Arbeiten von Ingolf Arnasson (abstrakte Malerei, sehr zurückhaltend ein graues Viereck an der Decke eines Raumes) und ein gerolltes Blatt Papier sowie eine Edition von 6 Büchern mit blauen Wohnungsgrundrissen von Solvei Adalsteindottir. Die Installation abgestimmt auf die Wohnungsarchitektur und den besonderen Lichteinfall des Wohnblocks des Staatsarchitekten Einar Sveinsson. Ich laufe aus dem Westen der Stadt durch Siedlungen mit funktionaler Betonarchitektur der 20er und 30er Jahre zurück in die Innenstadt und nach Hause. Abends ist noch ein wenig Zeit zum Sortieren der Handyfotos, Schreiben, Radiohören und Zeichnen.

    24.7.12
    Heute habe ich eine Reihe von Collagen fertig gemacht, deshalb war fast keine Zeit für Anderes und „Besichtigungen“ habe ich nur am Rande von Besorgungen in der Stadt gemacht. Im SÌM House der Künstlervereinigung (www.icelandicartcenter.is), in dem ich wohne, ist außerdem ein ständiger Wechsel von Gästen. Hatte ein Gespräch mit Joan Pearlman aus Los Angeles (www.jaonperlman.com). Sie hat eine Nacht hier übernachtet und macht Malereien und Videoarbeiten über die geologischen Strukturen Islands. In der Stadt sah ich eine Kirche, die auf ersten Blick wie Skandinavisches Holz aussah, an de Roststellen konnte man aber sehen, das sie aus Wellblech besteht. Größer als Kirchen sind in der Stadt Theater und ehemalige oder noch funktionierende Kinos. Das sind die großen Gebäude der Stadt aus den 20er, 30er Jahren des letzen Jahrhunderts. Sie müssen die Stadt damals stark geprägt haben. Gegenüber der Innenstadt prominent am Hafen gelegen das Kulturzentrum Harpa, das für Konzerte und Ausstellungen genutzt wird. Die Glasfassade, von Elafur Eliasson mit einem Dänisch-Isländischen Architektenteam entworfen, funkelt bei Sonnenlicht wegen der Nutzung polarisierten Lichts in verschiedenen Farben. Clever hat Eliasson Teile seiner wabenförmigen Geometrie-Elemente auch als Skulpturen vermarktet. So war auch eine solche Skulptur bei den Sammlern zu sehen, die ich am 2 . Tag in Island besuchen konnte. Innen spielt das Gebäude mit schwarzem Sichtbeton und Naturstein als Kontrast zu vielfältigen Spiegelungen und Brechungen von Licht. Überall farbige Lichtflecken.

    25.7.12
    Weiter an Collagen gearbeitet und in mein Verzeichnis eingetragen. Im SÍM House hat mir Lisa K. Blatt (www.lisakblatt.com) aus San Francisco ihre Arbeit gezeigt. Fotos und Videos von Wüsten, Antarktis. Hohe Qualität. Sie trifft hier Freunde und entwickelt neue Arbeiten. Sie hatte 2009 eine Ausstellung im Photography Museum of Reykjavik. Am Abend ein endloses Gespräch über die Psychologie zwischen Künstlern, Künstlern und Sammlern, Kuratoren. In der Stadt fällt mir auf, dass überall Reklame gemacht wird „Islandic Design“. Wie bei uns muss man kritisch bleiben. Viele von den Läden sehen aus wie Museumsshops oder durchschnittliche Modeboutiquen und wenn man Pech hat besteht das Design aus schräg abgeschnittenen Leggings und behäkelten Bachkieseln als Briefbeschwerer. Nur wenige Geschäfte halten ihren kühlen klaren Stil konsequent durch.

    26.7.12
    Tagsüber vergeblich versucht, mich auf Zeichnungen zu konzentrieren. Wollte eine Zeichnung machen, die sich auf die Beobachtung bezieht, dass in Reykjavik fast alle historischen Bronzestandbilder und -büsten auf pyramidenförmigen Sockeln stehen (stabiler wegen der Erdbebengefahr?). Ich wartete auf einen Anruf, dass ich von einem Handwerker mit aufs Land genommen werden sollte, wo ich Helgi Thorgils Fridjonssons Frau Magga Lisa treffen sollte, um mit ihr in das „Sommerhaus“ , den ehemaligen Bauernhof in Familienbesitz zu fahren. Letztlich verließ ich dann Reykjavik doch mit einem Linienbus in Richtung Stykkisholmur, wo Magga mir die wunderschöne Ortschaft mit dem Hafen zeigte. Auf der einen Seite Gletscher, auf der anderen Seite die Meeresbucht liegt das „Wassermuseum“ von Roni Horn auf einer Anhöhe. Ich konnte nur von außen in den Raum mit den Wassersäulen aus Gletscherwasser und zwei Tischen mit Schachbrettern schauen. Nach einer Fahrt von weiteren 2 Stunden über eine Pistenstrasse kamen wir an dem Küstenstreifen an, an dem Stykkisholmur gegenüber gelegen die Familie von Helgi seit je her Bauerngehöfte besitzt. Die letzte halbe Stunde an der Küstenstraße, war fast jedes Haus mit der Familie verbunden oder gehört Verwandten, die dort entweder noch Landwirtschaft betreiben oder Sommerhäuser für Lachsfischerei etc. haben. Im sehr kleinen Haus der beiden Freunde angekommen, war ich überwältigt von der Wechsel von wunderbaren Naturausblicken aus jedem Fenster (Meer, Gletscher, sonnenbeschienene Wolken im Abendrot, Mitternachtssonne) und den Kunstwerken, die zwischen den Fenstern hängen: Dieter Roth, David Reeder, Thomas Huber, Karin Kneffel, Jan Knap, Peter Angermann, Blalla W. Hallmann und einigen bekannten Isländern (z. B. Gylfi Gislason) im Original. Serigrafien von dem Holländer J. Halstein und Antonin Strizek („Antony“) Tim Butler und Persische Miniaturen, auf einer ist ein Reiter, dessen Pferd aus vielen anderen Tieren zusammengesetzt ist. Außerdem hängt ein ca. 5 × 4 cm großer Abzug von einer Original-Radierplatte von Rembrandt an der Wand, ein Selbsporträtkopf.

    27.7.12
    Heute wurde ich von Helgi Thorgils Fridjonsson in die aufregende Landschaft der Halbinsel mitgenommen, auf der sich sein Land befindet. Wir kamen zu winzigen, sehr schönen – vor allem schön gelegenen – Kirchen und Friedhöfen der Gegend. Zufällig trafen wir dort zwei Französische Touristinnen, von denen die eine in London, die andere in Amsterdam wohnt. Hier in der Einsamkeit Menschen zu treffen ist etwas Besonderes – man spricht miteinander. Zwischen gigantischen Bergen und dem Meer, das hier bei Flut um 4 Meter ansteigt, kamen wir an einem gewaltigen Damm mit Brücke durch den Fjord vorbei. Helgi erzählte, dass sein Vater diesen hat bauen lassen und dadurch der Gegend sehr zu schnelleren Verkehrsverbindungen verholfen hat. Er gab zu, dass sein Vater so eine Art „demokratischer kleiner König“ gewesen sei. Anschließend kamen wir zu einer ehemaligen Landwirtschaftsschule, deren Gebäude jetzt für Ausstellungen genutzt wird und sahen dort eine sehr schön installierte Gruppen-Ausstellung, die von Freiwilligen in mehreren verlassenen Häusern der Region organisiert wird (www.dalporogholar.nyp.is). Wir konnten wegen der Entfernungen nur den Teil in Olafsdalur sehen. Mir gefiel sehr die Arbeit von Cai Ulrich von Platen, der eine dänische Adresse hat (www.kunstonline.dk/profil/cai-ulrich-von-platen.php). Anschliessend zurück in Helgis Haus 2 Skizzen gemacht. Dabei war es durch den Wind bei 15 Grad gefühlte 12 Grad. In Stuttgart heute 37.

    28.7.12
    Eine kleine Wanderung gemacht. Erst über ein Stück Pistenstraße zu einer Brücke mit Blick ins glasklare Wasser. Helgi sah mit geübtem Auge, dass heute keine Lachse da sind. Dann zum Meeresufer, wo er mir den essbaren Seetang zeigte und 5-6 Seehunde, die er versuchte zur rufen. Weil sie neugierig sind, kommen sie dann manchmal angeschwommen. Unsere Seehunde waren aber zu faul dafür. Neulich muss ein Orca bis hierher geschwommen sein und hat hier einige Seehunde erwischt, was ein grausames Schauspiel ist, von dem mir auch Helgis Frau Magga Lisa schon erzählt hatte. Dann kletterten wir in der wunderbar warmen Sonne auf einen kleinen sehr felsigen Berg. Ein Gespräch über „Vampirotheutis“ von Vilem Flusser zwischen wilden Blaubeeren und Pilzen. Auf dem Weg zur Spitze des Berges konnte ich Helgi kaum folgen, der hier so schnell schlendert, wie wenn er auf einem flachen Gehsteig läuft. Ich dagegen rutsche ab, stolpere und weiß im Gestrüpp nicht wo hin treten. Von oben natürlich wunderbare Aussicht auf den Fjord, die gegenüberliegende Seite mit den vielen Inseln und Stykkisholmur. Wieder zu Hause Gespräche über Amelie von Wulfen, Bernd Koberling und Kataloge von Sean Landers, Robert Devriendt und Stephen MacKenna (Ich muss mal überprüfen, ob von diesem wunderbaren Koloristen mit seinen vereinfachten Gegenstandsformen ein guter Katalog in der Akademiebibliothek vorhanden ist). Heute vier Zeichnungen gemacht. Ölkreide und Bleistift. Bin sogar zufrieden damit.

    29.7.12
    Wattwanderung im Hvammsfjördur, Helgi erzählt mir, dass dies schon immer einer reiche Gegend gewesen ist, wegen der Aufkommen an Fisch und der Fruchtbarkeit des Hinterlandes. Er empfiehlt mir in einem Gespräch Slavoj Žižek, den ich noch nicht gelesen habe und von dem ein dickes Buch in Isländischer Übersetzung auf seinem Tisch liegt. Rückfahrt nach Reykjavik. Vorbereitung für den Ausstellungsaufbau im ASÌ- Museum, der morgen losgehen soll

    30.7.12
    Heute sind nicht nur die Arbeiten an der Aufhängung unserer Ausstellung losgegangen, sonder auch eine Reihe sehr internationaler Nachrichten eingetroffen: Thomas Stricker schreibt mir zwei Mal aus Trinidad-Tobago und wir überlegen, ob wir Helgi kommendes Frühjahr mit nach Namibia nehmen können. Eine Mail: Mein Bildertransport zur Sommerakademie in Irsee scheint geklappt zu haben. Dann meldet sich ein Student aus Rom, der eine Adresse aus Stuttgart braucht, weil er vielleicht ein Bild verkaufen kann. Ich lerne die Museumsdirektorin kennen, die uns großzügiger Weise fast das gesamte Museum zur Verfügung stellt. Ich hänge meine sechs großen Pastelle im ASÌ Museum auf und wir beschließen, dass wir drei Teilnehmer der Ausstellung in einem fensterlosen Ausstellungsraum eine gemeinsame Wandzeichnung machen wie bereits vor Jahren in Kopenhagen. Abends Skypen mit Amsterdam.

    31.7.12
    Mit meinem Beitrag zu der gemeinsamen Zeichnung nicht nur angefangen, sondern auch fertig geworden. Ist sehr erzählerisch aber auch surrealistisch geworden: 2 Figuren eine fast lebensgroß mit flatterndem Schlips. In den Händen eine Art Bild mit Blasen-Struktur, wie ich sie hier in erkaltetem Lavagestein gesehen habe, in der anderen Hand einen Teller, von dem so etwas wie ein flüssiger Lava – Brei tropft. Während des gemeinsamen Arbeitens fällt mir auf, dass sich meine Striche beim Zeichnen mit Grafitstift viel rhythmischer und regelmäßiger anhören, als die von Helgi, der eine schräg kopfstehende Figur mit einem Lachs auf dem Rücken über die Wand „rutschen“ lässt. Seine Figur entsteht aus eher gekritzelten Linien – Zusammenballungen, während ich Volumen und Oberflächenlicht meiner Gegenstände durch die Intensität des Druckes mit dem Stift und die Form beschreibende Schraffurlagen erzeugen möchte. Helgi braucht deutlich mehr Kraft und erzeugt dadurch sehr schwarze Stellen, bei mir sieht es toniger aus. Mir kommt dabei die Idee, dass wir unser unterschiedliches Arbeitsgeräusch aufnehmen könnten und in der Ausstellung abspielen. Lars Ravn hat sicher noch ein anderes Verfahren, wie er seine Zeichnung macht. Meine zweite Figur hat ein Buch und ein Bild von einer sechseckigen Säule in der Hand und steht zwischen Basaltsäulen, von denen es hier viele gibt und die auch in der benachbarten Halgrimskírkja nachgebildet sind. Eine weitere Basaltsäule in einer Ecke, neben der eine Eiche wächst. Dies wohl, weil Helgi und ich uns in der Pause über die vom morgen anreisenden Lars Ravn zu erwartenden Hasenfiguren unterhalten haben. Als Helgi nach der Bedeutung der Hasen fragte, meinte ich mich an den Bezug zu Beuys und Dürer zu erinnern. Helgi meinte, das sei ja klar, demnach kann man hier beim Kunstpublikum wohl damit rechnen, dass Anspielungen auf diese deutschen Künstler funktionieren. Wir haben beschlossen, bei der Hängung zu probieren, ob wir eine Mischung von lose gehängten Blättern und gerahmten Arbeiten hinbekommen. Innerhalb von weniger als einem Tag organisiert Helgi für mich die Rahmung von 8 meiner Arbeiten. Die gerahmten Collagen sehen hineingestreut in meinem Block aus 5 × 5 Collagen prima aus. Im Café lerne ich Kristján Steingrímur Jónsson kennen, den Dean des Department of Fine Arts der Iceland Academy of the Arts. Er meint, ich solle bei meinem nächsten Besuch in Reykjavik unbedingt in dieser Partnerschule vorbei kommen, die allerdings jetzt gerade wegen Ferien geschlossen ist (was ich wusste – deshalb habe ich diesmal ausnahmsweise keine Kontaktaufnahme geplant). Ein ehemaliger Schüler von Helgi hat eine Galerie im Basement eines Design-Ladens eröffnet. Dort sehn wir uns die Ausstellung von einem Isländer an, der bei Katharina Grosse in Berlin Weißensee studiert hat. Die kleine Ausstellung ist nicht nur gut, sondern auch noch lustig: pinkelnde Figuren in wässeriger Tusche, geschnitzte bemalte Köpfe und Figuren symmetrisch um ein obskuren braunen Pokal angeordnet, der eher erdbraun aussieht statt zu glänzen.
    Helgi hat unter seinen tagebuchartig entstehenden Blättern auch etliche, in denen er Zeitungsartikel übermalt und dabei Teile von Text oder Fotos stehen lässt. Eine Arbeit zeigt Amy Winehouse, und er erzählt mir, dass er vor lauter Tabloid – Gerüchten in den Zeitungen nicht geglaubt hatte, dass sie außer Opfer von Skandalberichten auch eine gute Sängerin sein könnte. Erst nach vielen Horrorgeschichten hat er sie singen gehört und gemerkt, dass er ihre Musik kräftig und erstaunlich fand. Ich habe auch meine Amy-Winehouse Geschichte: Als sie vor gut einem Jahr starb, war gerade die Rundgangausstellung und wir Kollegen bei Prof. Büttner eingeladen. Dort sitze ich mit einem Stück Torte zwischen Akademiekollegen, die sich seit 10 Minuten über die „arme Amy“ unterhalten. Als ich mich schließlich einmische und sage, dass ich hier eher erwartet hätte, dass man sich über den kürzlichen Tod von Lucian Freud unterhält, ernte ich Unverständnis: eine Kollegin meint, dass sie ihn gar nicht richtig kennen würde. Helgi lacht über meine Geschichte und meint in seiner ruhigen Art, es sei schließlich meine Aufgabe, so was an „meiner Schule“ zu ändern.