Von Holger Bunk

… ein paar passende Worte
Wie macht man Worte, die zur Kunst passen?

Vortrag als Einstieg für eine Podiumsdiskussion im Württembergischen Kunstverein anlässlich der Ausstellung »nur geträumt?« der Stipendiatinnen der Landesgraduiertenförderung

Sehr geehrte Damen und Herren,

Sie sind zu einem Vortrag im Württembergischen Kunstverein gekommen und sollen und werden auch selbstverständlich einen Vortrag erhalten. Und ich bin bei aller Selbstkritik selbstverständlich der Meinung, dass meine Worte zum Anlass, nämlich einer Veranstaltung im Rahmen der Ausstellung »Alles nur geträumt?« der Stipendiatinnen des Landesgraduiertenstipendiums passen. Trotzdem werden sie gleich hören, wie kritisch ich dem Vortragen angesichts von Kunstwerken gegenüberstehe. Es wird interessant sein, die Künstlerinnen zu befragen, welchen Stellenwert das Wort und die kognitiv erworbene Kenntnis in ihrer eigenen künstlerischen und beruflichen Entwicklung innehaben und welche Rolle ein Redner in ihrer Ausstellung haben kann: Welche Form der Erklärung ist vor den Bildern eigentlich wünschenswert? Wer soll sprechen? Soll ein für kompetent Gehaltener seine Gedanken vom Pult her aussprechen, oder sollen wir alle mit den Künstlerinnen und untereinander ins Gespräch gehen? – Danach werden wir Gelegenheit haben zu fragen. Es stellt sich aber auch die Frage, welchen Beitrag die Qualität der gesprochenen Worte zur Akzeptanz der jungen künstlerischen Positionen liefert. Schliesslich handelt es sich um Berufsstarterinnen. Welche Rolle spielen Katalogtexte, Ausstellungsbesprechungen und Stipendien? Wie stabil und nachhaltig ist die dadurch beförderte Integration in den Kulturbetrieb?

Weil ich selbst regelmässig Ausstellungen und Eröffnungen besuche, sehe ich gelegentlich Künstler wie kunstinteressierte Gäste Vorträgen oder Reden ausgesetzt, die – schlicht gesagt – lang sind. Und zwar so lang, dass sich der Text wie von aussen beginnt über die Kunst zu legen. Eine immer dicker werdende Schicht aus Text verstaubt die Werke, um die es eigentlich gehen soll, und schliesslich werden sie unsichtbar. Wenn es dann einem talentierten Redner noch gelingt, die besprochene Ausstellung zur Kulisse seines Auftrittes zu degradieren, wünsche ich mir manchmal, es käme die unheimliche und mächtige, alles übertönende Computerstimme aus dem Godard-Klassiker »Lemmy Caution gegen Alpha 60« irgendwo aus dem Off mitten in die Szene hineingedonnert, die sagt: „Man wird sich damit abfinden müssen, dass die Kunst für die Darstellung in Worten zu vielschichtig ist.“

In besseren Fällen wird die Kunst durch Worte allerdings geschützt, ergänzt, die Gedanken werden angeregt und Zusammenhänge geklärt. Aber wir alle erfahren auch, dass der wissende und kenntnisreiche Blick ein anderer ist als der frische unverbrauchte. Vielleicht erinnern wir uns nämlich an einen ersten tiefen, vielleicht sogar überwältigenden Eindruck, den ein Kunstwerk auf uns machte. An diese Wahrnehmung werden wir uns dann immer erinnern, weil sie etwas bedeutet hat, – weil ein Kunstwerk wirksam wurde. Aber es kann sein, dass gerade dieser besonderen Begegnung mit einem Kunstwerk die Worte fehlen und dass späteres Reden und Lesen über Kunst solche Erfahrungen nur blass erinnern, beschwören, ergänzen soll. Garantieren kann es sie nicht.

Ein amerikanischer Freund macht sich über das wortreiche Geschwafel der Theoretiker zu recht lustig: “talking about jazz is like dancing about architecture” (übersetzt etwa: „über Jazz reden ist wie tanzen über Architektur“). Recht hat er, das Ding kann durch Reden in Mitleidenschaft gezogen werden. Sprache kann unangemessen sein und kommt oft nicht zum Punkt.

Wenn Künstler reden sollen, ist es nicht ganz unüblich, sich in Pose zu werfen und zu sagen: „schauen Sie gefälligst die Kunstwerke an, die sind hier schliesslich das Wichtigste“ und dann kann man als Künstler noch einen „starken Abgang“ vom Rednerpult versuchen. Ob die Provokation der verbalen Verweigerung in dieser Form klappt, ob der schroff behandelte Ausstellungsbesucher versteht, dass die Konfrontation ohne vermittelnde Worte zu Selbstständigkeit und Erkenntnis führen soll, ist fraglich. Kein tröstendes Wort kommt von Aussen zu hilfe. Aber vielleicht auch kein rettender Gedanke von Innen. Deshalb bin ich auch kritisch mit dieser wortlosen Verfahrensweise.

Die Künstlerinnen dieser Ausstellung treffen vermutlich eine andere Wahl. Stellvertretend für unsere und die allgemeine Unsicherheit, ob unsere Wahrnehmung und Beschreibung der Welt stimmen, stellen sie die Titel-Frage ihres gemeinsamen Projektes: »Alles nur geträumt?« Der Traum könnte die Kluft zwischen dem Bildhaften und unserem urteilenden Blicken und verwertenden Worten überbrücken. Der Traum ist auch ein gutes Bild für das tiefe Erleben von Kunst, wie ich es vorher beschrieben habe. Im Traum verschwindet die Grenze und wir sind ganz offen für die Wahrnehmung der Bilder. Erfahrung und Empfehlung von Künstlerinnen und Künstlern ist es vermutlich, sich dem auszusetzen und „traumhafte“, „traumartige“ Wahrnehmung zuzulassen, um die Tiefe und Komplexität des Vorganges nicht zu verlieren. Wenn man sich aber die Frage stellen kann, ob man „alles nur geträumt“ hat, dann glaubt man doch offenbar nach einem traumhaften Erlebnis wieder wach zu sein, dann hat man zumindest einmal den Zustand und die Art des Blickes geändert. Und wenn man das so interpretieren darf, dann handelt der Ausstellungstitel von der Möglichkeit, unterschiedliche Wahrnehmungs- und Reflexionsformen in Beziehung zueinander zu setzen oder sie sogar zu verbinden.

Die Einseitigkeit des Blickes und der Ansicht soll so verändert werden. Das verlangt der Respekt vor den Kunstwerken und den individuellen Positionen, die in der Kunst erarbeitet werden. Die vier Künstlerinnen, die hier in einem Ausstellungsprojekt zusammengefasst wurden, sind durch ein Landesgraduiertenstipendium ausgezeichnet und damit – so feierlich muss man es ausdrücken – vom Land für würdig befunden worden, zwei Jahre lang ihre künstlerische Forschung oder ihr künstlerisches Projekt im Rahmen einer Finanzierung vom Range eines Doktorandenstipendiums zu betreiben. Den Rang eines wissenschaftlichen und scheinbar überprüfbaren Stipendiums einzulösen, gelingt den vier Stipendiatinnen wie zahlreichen Vorgängerinnen und Vorgängern, die die staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart auswählen konnte. Aber es gelingt nicht durch Text und Theoriebildung allein, sondern durch anschauliche Ergebnisse, wie sie hier präsentiert sind. Worin die Stipendiatinnen ihre ideale Distanz zum Wort und worin sie den Wert der künstlerischen Produktion sehen, wird sich in der anschliessenden Diskussion und Befragung ergeben, denn wir haben die Künstlerinnen (beinahe alle) hier und haben das Privileg der direkten Befragung und des Gespräches, zu dem ich später ermuntern möchte.

Zum Abschluss will ich aber noch ein Beispiel für meine eigene ideale Distanz gegenüber dem Wort geben. Um Kunst und künsterische Verfahrensweisen zu beschreiben, wähle ich meist lieber ein Textbeispiel, das als Literatur selbst Kunst ist und nicht Erklärung. Ein solches Textstück erklärt nicht, scheint in seiner merkwürdigen Weise der Erfindung eine Parallele zum Traum zu haben und kann und muss gedeutet werden. Sobald man beginnt, sich für die Deutung und Lösung des rätselhaften Textes zu interessieren, kommt man künstlerischer Denk- und Verfahrensweise nahe. Man gerät in den funkelnden und spannenden Meteroitenschauer immer wieder neuer Zusammenhänge und Fragestellungen, die nicht im herkömmlichen Sinne beantwortet werden können. Man lernt genauere Fragen zu stellen, aber auch, dass die Suche nach befriedigenden Antworten eher ein nicht endender Prozess ist, als dass man auf gültige Ergebnisse stösst. – In dem anfangs schon zitierten Godard-Film nimmt der Held schliesslich ein Taxi zum »Zentralen Institut für Wortbedeutungen«, um Antwort auf seine Fragen zu erhalten. Er wird dort gefangen genommen und kann sich nur befreien, indem er die Logik des Rechners überfordert, der dazu da ist, alles eindeutig zu beantworten und zu kontrollieren.

Jetzt aber zu meinem Textbeispiel: Von dem folgenden Literaturfragment behaupte ich, dass es eine gute Übung für das „Deuten“ und Fragenstellen an die Kunst darstellt. Es geht um das Verfertigen eine zugleich höchst wissenschaftlichen und kunstfertigen Sache, die erst mit höchstem Nachdruck betrieben, dann aber pietätlos fallen gelassen wird. Der zunächst harmlos wirkende Textabsatz beschäftigt sich mit der Kartographie, die ich als ein Art der Aufzeichnung und somit als Parallele zum künstlerischen Verfertigen von Bildern sehe. Es ist ein angebliches Fragment, das der argentinische Schriftsteller Jorge Louis Borges bei einem anderen Autor aus dem Jahre 1658 gefunden haben will. Der Titel ist:

Von der Strenge der Wissenschaft

… In jenem Reich erlangte die Kunst der Kartographie eine solche Vollkommenheit, dass die Karte einer einzigen Provinz den Raum einer Stadt einnahm und die Karte des Reichs den einer Provinz. Mit der Zeit befriedigten diese maßlosen Karten nicht länger, und die Kollegs der Kartographen erstellten eine Karte des Reichs, die die Größe des Reichs besaß und sich mit ihm in jedem Punkt deckte. Die nachfolgenden Geschlechter, die dem Studium der Kartographie nicht mehr so ergeben waren, waren der Ansicht, diese ausgedehnte Karte sei unnütz, und überließen sie, nicht ohne Verstoß gegen die Pietät, den Unbilden der Sonne und der Winter. In den Wüsten des Westens überdauern zerstückelte Ruinen der Karte, behaust von Tieren und von Bettlern; im ganzen Land gibt es keine anderen Überreste der geographischen Lehrwissenschaft.

Holger Bunk, 13. Dezember 2005


Suárez Miranda: Viajes de varones prudentes, IV. Buch, Kapitel XLV, Lérida, 1658.

Jorge Luis Borges München, 1982.